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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 8. Göttingen, 1753.

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Pauls vorschlug, mit der Bitte,
daß er sie begleiten dürfte. Sie
rühmt sein gutes Betragen in der
Kirche, seine Gespräche, und den
Prediger, dessen Rede sich recht
auf ihren Zustand geschickt hätte.
Sie erzählet die Unterredung, die
sie hernach mit ihm gehalten, und
rühmt seine guten Anmerkungen
über die Predigt.

Jch bin geneigt, sagt sie, etwas von ihm
zu hoffen, aber ich weiß so wenig, wie weit ich
mich darauf verlassen kann, wenn er eine gan-
ze Stunde ernstaft ist, daß alles, was ich
hierin zu seinem Vortheil erzähle, einer Mil-
derung bedarf.

Da er mir so sehr mit Bitten zusetzte, so
wußte ich nicht, wie ich es abschlagen sollte,
mit der Witwe und ihren Schwester-Töchtern
den Mittag zu speisen. Sie haben mir noch
besser gefallen, als ich dachte. Jch muß es
mir selbst verweisen, daß ich so bereit bin, stren-
ge zu urtheilen, wo der gute Name darunter
leiden kann. Wenn man der Leute Art zu den-
ken, ihr Wesen, ihr Temperament, und Er-
ziehung, und die Gelegenheiten, die sie gehabt
haben, in Betrachtung ziehet, so können man-
che, so viel ich weiß, tadelfrei scheinen, wel-
che andere Leuten von verschiedenem Tempera-
ment und Erziehung gar zu leicht tadeln, die
dann von jenen, aus demselben Fehler mit

eben
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Pauls vorſchlug, mit der Bitte,
daß er ſie begleiten duͤrfte. Sie
ruͤhmt ſein gutes Betragen in der
Kirche, ſeine Geſpraͤche, und den
Prediger, deſſen Rede ſich recht
auf ihren Zuſtand geſchickt haͤtte.
Sie erzaͤhlet die Unterredung, die
ſie hernach mit ihm gehalten, und
ruͤhmt ſeine guten Anmerkungen
uͤber die Predigt.

Jch bin geneigt, ſagt ſie, etwas von ihm
zu hoffen, aber ich weiß ſo wenig, wie weit ich
mich darauf verlaſſen kann, wenn er eine gan-
ze Stunde ernſtaft iſt, daß alles, was ich
hierin zu ſeinem Vortheil erzaͤhle, einer Mil-
derung bedarf.

Da er mir ſo ſehr mit Bitten zuſetzte, ſo
wußte ich nicht, wie ich es abſchlagen ſollte,
mit der Witwe und ihren Schweſter-Toͤchtern
den Mittag zu ſpeiſen. Sie haben mir noch
beſſer gefallen, als ich dachte. Jch muß es
mir ſelbſt verweiſen, daß ich ſo bereit bin, ſtren-
ge zu urtheilen, wo der gute Name darunter
leiden kann. Wenn man der Leute Art zu den-
ken, ihr Weſen, ihr Temperament, und Er-
ziehung, und die Gelegenheiten, die ſie gehabt
haben, in Betrachtung ziehet, ſo koͤnnen man-
che, ſo viel ich weiß, tadelfrei ſcheinen, wel-
che andere Leuten von verſchiedenem Tempera-
ment und Erziehung gar zu leicht tadeln, die
dann von jenen, aus demſelben Fehler mit

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[121/0129] Pauls vorſchlug, mit der Bitte, daß er ſie begleiten duͤrfte. Sie ruͤhmt ſein gutes Betragen in der Kirche, ſeine Geſpraͤche, und den Prediger, deſſen Rede ſich recht auf ihren Zuſtand geſchickt haͤtte. Sie erzaͤhlet die Unterredung, die ſie hernach mit ihm gehalten, und ruͤhmt ſeine guten Anmerkungen uͤber die Predigt. Jch bin geneigt, ſagt ſie, etwas von ihm zu hoffen, aber ich weiß ſo wenig, wie weit ich mich darauf verlaſſen kann, wenn er eine gan- ze Stunde ernſtaft iſt, daß alles, was ich hierin zu ſeinem Vortheil erzaͤhle, einer Mil- derung bedarf. Da er mir ſo ſehr mit Bitten zuſetzte, ſo wußte ich nicht, wie ich es abſchlagen ſollte, mit der Witwe und ihren Schweſter-Toͤchtern den Mittag zu ſpeiſen. Sie haben mir noch beſſer gefallen, als ich dachte. Jch muß es mir ſelbſt verweiſen, daß ich ſo bereit bin, ſtren- ge zu urtheilen, wo der gute Name darunter leiden kann. Wenn man der Leute Art zu den- ken, ihr Weſen, ihr Temperament, und Er- ziehung, und die Gelegenheiten, die ſie gehabt haben, in Betrachtung ziehet, ſo koͤnnen man- che, ſo viel ich weiß, tadelfrei ſcheinen, wel- che andere Leuten von verſchiedenem Tempera- ment und Erziehung gar zu leicht tadeln, die dann von jenen, aus demſelben Fehler mit eben H 5

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Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 8. Göttingen, 1753, S. 121. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa08_1753/129>, abgerufen am 27.04.2024.