mit sich hinreißen. Jn der That gehen sie mir allezeit im Kopfe herum.
Zuerst, mein eigner Verdruß, daß ich mich in mei- ner Hoffnung betrogen sehe: da ich in der Hoff- nung herüber gekommen, meine übrigen Tage in dem Umgange mit einer so geliebten Base, mit der ich noch dazu in einer gedoppelten Ver- wandtschaft stand, als ihr Vetter und als ihr Vormund, zuzubringen.
Alsdenn überlege ich, vielleicht allzu - - allzu oft in Ansehung der Verbindlichkeit, die sie mir in ihren letzten Stunden aufgeleget hat, daß die liebe Fräulein nur allein für sich selbst verge- ben konnte. Sie ist sonder Zweisel glücklich: aber wer soll für eine ganze Familie, die in allen ihren Zweigen auf ihre Lebenszeit un- glücklich gemacht ist, vergeben?
Jch erwäge, daß seine Undankbarkeit um so viel ungeheurer und um so viel weniger zu ent- schuldigen ist, je mehr es ihre Freunde in An- sehung ihrer versehen haben - - Wie? mein Herr, war es nicht genug, daß sie um seinet- willen das litte, was sie litte: mußte der Un- mensch ihr noch ein neues Leiden dafür aufle- gen, daß sie um seinetwillen litte? - - Der Zorn macht, daß ich dieß mit schwachen Wor- ten ausdrücke: der Zorn versagt uns bisweilen die Stärke im Ausdruck, wo die Billigkeit ei- nes gefaßten Unwillens gleich bey dem ersten Anblick zeiget, daß es nicht nöthig sey, ihn aus-
zudrü-
mit ſich hinreißen. Jn der That gehen ſie mir allezeit im Kopfe herum.
Zuerſt, mein eigner Verdruß, daß ich mich in mei- ner Hoffnung betrogen ſehe: da ich in der Hoff- nung heruͤber gekommen, meine uͤbrigen Tage in dem Umgange mit einer ſo geliebten Baſe, mit der ich noch dazu in einer gedoppelten Ver- wandtſchaft ſtand, als ihr Vetter und als ihr Vormund, zuzubringen.
Alsdenn uͤberlege ich, vielleicht allzu ‒ ‒ allzu oft in Anſehung der Verbindlichkeit, die ſie mir in ihren letzten Stunden aufgeleget hat, daß die liebe Fraͤulein nur allein fuͤr ſich ſelbſt verge- ben konnte. Sie iſt ſonder Zweiſel gluͤcklich: aber wer ſoll fuͤr eine ganze Familie, die in allen ihren Zweigen auf ihre Lebenszeit un- gluͤcklich gemacht iſt, vergeben?
Jch erwaͤge, daß ſeine Undankbarkeit um ſo viel ungeheurer und um ſo viel weniger zu ent- ſchuldigen iſt, je mehr es ihre Freunde in An- ſehung ihrer verſehen haben ‒ ‒ Wie? mein Herr, war es nicht genug, daß ſie um ſeinet- willen das litte, was ſie litte: mußte der Un- menſch ihr noch ein neues Leiden dafuͤr aufle- gen, daß ſie um ſeinetwillen litte? ‒ ‒ Der Zorn macht, daß ich dieß mit ſchwachen Wor- ten ausdruͤcke: der Zorn verſagt uns bisweilen die Staͤrke im Ausdruck, wo die Billigkeit ei- nes gefaßten Unwillens gleich bey dem erſten Anblick zeiget, daß es nicht noͤthig ſey, ihn aus-
zudruͤ-
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mit ſich hinreißen. Jn der That gehen ſie mir
allezeit im Kopfe herum.
Zuerſt, mein eigner Verdruß, daß ich mich in mei-
ner Hoffnung betrogen ſehe: da ich in der Hoff-
nung heruͤber gekommen, meine uͤbrigen Tage
in dem Umgange mit einer ſo geliebten Baſe,
mit der ich noch dazu in einer gedoppelten Ver-
wandtſchaft ſtand, als ihr Vetter und als ihr
Vormund, zuzubringen.
Alsdenn uͤberlege ich, vielleicht allzu ‒ ‒ allzu oft
in Anſehung der Verbindlichkeit, die ſie mir in
ihren letzten Stunden aufgeleget hat, daß die
liebe Fraͤulein nur allein fuͤr ſich ſelbſt verge-
ben konnte. Sie iſt ſonder Zweiſel gluͤcklich:
aber wer ſoll fuͤr eine ganze Familie, die in
allen ihren Zweigen auf ihre Lebenszeit un-
gluͤcklich gemacht iſt, vergeben?
Jch erwaͤge, daß ſeine Undankbarkeit um ſo viel
ungeheurer und um ſo viel weniger zu ent-
ſchuldigen iſt, je mehr es ihre Freunde in An-
ſehung ihrer verſehen haben ‒ ‒ Wie? mein
Herr, war es nicht genug, daß ſie um ſeinet-
willen das litte, was ſie litte: mußte der Un-
menſch ihr noch ein neues Leiden dafuͤr aufle-
gen, daß ſie um ſeinetwillen litte? ‒ ‒ Der
Zorn macht, daß ich dieß mit ſchwachen Wor-
ten ausdruͤcke: der Zorn verſagt uns bisweilen
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 7. Göttingen, 1751, S. 740. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa07_1751/746>, abgerufen am 24.11.2024.
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