wissen nicht, was für eine Freundinn ich verloh- ren habe.
Hierauf übersahe sie den Deckel des Sarges, und schien auf einmal den Verstand der Sinnbil- der zu fassen. Dieß verursachte ihr von neuem so vielen Kummer, daß sie nicht im Stande war, ob sie gleich verschiedne mal ihre Augen abwischte, die Jnschrift und biblische Stellen zu lesen. Sie wandte sich daher zu mir. Erweisen sie mir die Gewogenheit, mein Herr, und senden mir mit einer Zeile die Beschreibung dieser Sinnbilder und diese Schriftstellen: und wo mir eine Locke von den Haaren der lieben Fräulein gegönnt wer- den möchte - -
Jch meldete ihr, daß der Ausrichter ihres Testaments beydes besorgen, und ihr auch eine Abschrift des letzten Willens senden würde, in welcher sie die dankbarlichste Erinnerung ihrer Liebe gegen sie, als die sie ihre Herzensschwester nenne, finden möchte.
Mit Recht, sagte sie, nennt sie mich so. Denn wir hatten nur ein Herz, nur eine Seele unter uns. Und nun ist meine beste Hälfte von mir gerissen - - Was soll ich thun?
Darauf aber sahe sie sich um, da ein Bedien- ter an die Thür trat, als wenn sie wieder besorgt hätte, es möchte jemand von der Familie kom- men. - - Noch einmal, sprach sie, ein feyerliches und ewiges Lebewohl! - - Ach! für mich, ein feyerliches und ewiges Lebewohl!
So
P p 2
wiſſen nicht, was fuͤr eine Freundinn ich verloh- ren habe.
Hierauf uͤberſahe ſie den Deckel des Sarges, und ſchien auf einmal den Verſtand der Sinnbil- der zu faſſen. Dieß verurſachte ihr von neuem ſo vielen Kummer, daß ſie nicht im Stande war, ob ſie gleich verſchiedne mal ihre Augen abwiſchte, die Jnſchrift und bibliſche Stellen zu leſen. Sie wandte ſich daher zu mir. Erweiſen ſie mir die Gewogenheit, mein Herr, und ſenden mir mit einer Zeile die Beſchreibung dieſer Sinnbilder und dieſe Schriftſtellen: und wo mir eine Locke von den Haaren der lieben Fraͤulein gegoͤnnt wer- den moͤchte ‒ ‒
Jch meldete ihr, daß der Ausrichter ihres Teſtaments beydes beſorgen, und ihr auch eine Abſchrift des letzten Willens ſenden wuͤrde, in welcher ſie die dankbarlichſte Erinnerung ihrer Liebe gegen ſie, als die ſie ihre Herzensſchweſter nenne, finden moͤchte.
Mit Recht, ſagte ſie, nennt ſie mich ſo. Denn wir hatten nur ein Herz, nur eine Seele unter uns. Und nun iſt meine beſte Haͤlfte von mir geriſſen ‒ ‒ Was ſoll ich thun?
Darauf aber ſahe ſie ſich um, da ein Bedien- ter an die Thuͤr trat, als wenn ſie wieder beſorgt haͤtte, es moͤchte jemand von der Familie kom- men. ‒ ‒ Noch einmal, ſprach ſie, ein feyerliches und ewiges Lebewohl! ‒ ‒ Ach! fuͤr mich, ein feyerliches und ewiges Lebewohl!
So
P p 2
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0601"n="595"/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/>
wiſſen nicht, was fuͤr eine Freundinn ich verloh-<lb/>
ren habe.</p><lb/><p>Hierauf uͤberſahe ſie den Deckel des Sarges,<lb/>
und ſchien auf einmal den Verſtand der Sinnbil-<lb/>
der zu faſſen. Dieß verurſachte ihr von neuem<lb/>ſo vielen Kummer, daß ſie nicht im Stande war,<lb/>
ob ſie gleich verſchiedne mal ihre Augen abwiſchte,<lb/>
die Jnſchrift und bibliſche Stellen zu leſen. Sie<lb/>
wandte ſich daher zu mir. Erweiſen ſie mir die<lb/>
Gewogenheit, mein Herr, und ſenden mir mit<lb/>
einer Zeile die Beſchreibung dieſer Sinnbilder<lb/>
und dieſe Schriftſtellen: und wo mir eine Locke<lb/>
von den Haaren der lieben Fraͤulein gegoͤnnt wer-<lb/>
den moͤchte ‒‒</p><lb/><p>Jch meldete ihr, daß der Ausrichter ihres<lb/>
Teſtaments beydes beſorgen, und ihr auch eine<lb/>
Abſchrift des letzten Willens ſenden wuͤrde, in<lb/>
welcher ſie die dankbarlichſte Erinnerung ihrer<lb/>
Liebe gegen ſie, als die ſie <hirendition="#fr">ihre Herzensſchweſter</hi><lb/>
nenne, finden moͤchte.</p><lb/><p>Mit Recht, ſagte ſie, nennt ſie mich ſo. Denn<lb/>
wir hatten nur ein Herz, nur eine Seele unter<lb/>
uns. Und nun iſt meine beſte Haͤlfte von mir<lb/>
geriſſen ‒‒<hirendition="#fr">Was ſoll ich thun?</hi></p><lb/><p>Darauf aber ſahe ſie ſich um, da ein Bedien-<lb/>
ter an die Thuͤr trat, als wenn ſie wieder beſorgt<lb/>
haͤtte, es moͤchte jemand von der Familie kom-<lb/>
men. ‒‒ Noch einmal, ſprach ſie, ein feyerliches<lb/>
und ewiges Lebewohl! ‒‒ Ach! fuͤr <hirendition="#fr">mich,</hi> ein<lb/>
feyerliches und ewiges Lebewohl!</p><lb/><fwplace="bottom"type="sig">P p 2</fw><fwplace="bottom"type="catch">So</fw><lb/></div></div></body></text></TEI>
[595/0601]
wiſſen nicht, was fuͤr eine Freundinn ich verloh-
ren habe.
Hierauf uͤberſahe ſie den Deckel des Sarges,
und ſchien auf einmal den Verſtand der Sinnbil-
der zu faſſen. Dieß verurſachte ihr von neuem
ſo vielen Kummer, daß ſie nicht im Stande war,
ob ſie gleich verſchiedne mal ihre Augen abwiſchte,
die Jnſchrift und bibliſche Stellen zu leſen. Sie
wandte ſich daher zu mir. Erweiſen ſie mir die
Gewogenheit, mein Herr, und ſenden mir mit
einer Zeile die Beſchreibung dieſer Sinnbilder
und dieſe Schriftſtellen: und wo mir eine Locke
von den Haaren der lieben Fraͤulein gegoͤnnt wer-
den moͤchte ‒ ‒
Jch meldete ihr, daß der Ausrichter ihres
Teſtaments beydes beſorgen, und ihr auch eine
Abſchrift des letzten Willens ſenden wuͤrde, in
welcher ſie die dankbarlichſte Erinnerung ihrer
Liebe gegen ſie, als die ſie ihre Herzensſchweſter
nenne, finden moͤchte.
Mit Recht, ſagte ſie, nennt ſie mich ſo. Denn
wir hatten nur ein Herz, nur eine Seele unter
uns. Und nun iſt meine beſte Haͤlfte von mir
geriſſen ‒ ‒ Was ſoll ich thun?
Darauf aber ſahe ſie ſich um, da ein Bedien-
ter an die Thuͤr trat, als wenn ſie wieder beſorgt
haͤtte, es moͤchte jemand von der Familie kom-
men. ‒ ‒ Noch einmal, ſprach ſie, ein feyerliches
und ewiges Lebewohl! ‒ ‒ Ach! fuͤr mich, ein
feyerliches und ewiges Lebewohl!
So
P p 2
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 7. Göttingen, 1751, S. 595. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa07_1751/601>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.