Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 7. Göttingen, 1751.

Bild:
<< vorherige Seite



sich zufälliger Weise dabey zugetragen hat, das
konnte er weder ändern, noch vorhersehen.

Einigen Leuten ist eine Ritze von einer Na-
delspitze eben so empfindlich, als andern ein
Schwerdtstreich: und wer kann die Empfindlich-
keit solcher Menschen vertheidigen? Metcalfe
wollte für seine Schwester zürnen: da seine
Schwester nicht für sich selbst zürnete. Hätte
sie ihres Bruders Schutz und Ahndung verlan-
get: so würde das eines andern Mannes Sa-
che
gewesen seyn; wie mein Lord M. zu reden
pflegt. Allein sie hielte selbst ihren Bruder für
einen Thoren, daß er sich ungebeten in ihre Sa-
chen mengte, und wünschte nichts mehr, als auf
eine anstandige Art und in geheim bey ihrem
Wochenbette versorget zu werden. Sie war ge-
neigt, den Versuch zu wagen, ob sie zu ihrem Be-
sten eine Maintenon über sein Gewissen spie-
len
könnte (*) und ihn zur Ehe zu bewegen ver-
mögend wäre, wenn der kleine Fremdling sich ein-
stellte: denn sie wußte, was für ein bequemer,
gutherziger Kerl er war. Und in der That wür-
de es, wenn sie ihn gewonnen hätte, ein Glück

für
(*) Man sagte von der Fr. Maintenon, daß sie Lud-
wig den XIV von Frankreich in seinem Alter, da
er durch den unglücklichen Fortgang im Felde
niedergeschlagen war, beredet habe, sie zu heyra-
then, damit er auf die Art sein Gewissen wegen
des freyen Lebens in seinen vergangenen Jahren,
welchem sie seinen Verlust bey den öffentlichen
Angelegenheiten zuschrieb, befriedigen möchte.



ſich zufaͤlliger Weiſe dabey zugetragen hat, das
konnte er weder aͤndern, noch vorherſehen.

Einigen Leuten iſt eine Ritze von einer Na-
delſpitze eben ſo empfindlich, als andern ein
Schwerdtſtreich: und wer kann die Empfindlich-
keit ſolcher Menſchen vertheidigen? Metcalfe
wollte fuͤr ſeine Schweſter zuͤrnen: da ſeine
Schweſter nicht fuͤr ſich ſelbſt zuͤrnete. Haͤtte
ſie ihres Bruders Schutz und Ahndung verlan-
get: ſo wuͤrde das eines andern Mannes Sa-
che
geweſen ſeyn; wie mein Lord M. zu reden
pflegt. Allein ſie hielte ſelbſt ihren Bruder fuͤr
einen Thoren, daß er ſich ungebeten in ihre Sa-
chen mengte, und wuͤnſchte nichts mehr, als auf
eine anſtandige Art und in geheim bey ihrem
Wochenbette verſorget zu werden. Sie war ge-
neigt, den Verſuch zu wagen, ob ſie zu ihrem Be-
ſten eine Maintenon uͤber ſein Gewiſſen ſpie-
len
koͤnnte (*) und ihn zur Ehe zu bewegen ver-
moͤgend waͤre, wenn der kleine Fremdling ſich ein-
ſtellte: denn ſie wußte, was fuͤr ein bequemer,
gutherziger Kerl er war. Und in der That wuͤr-
de es, wenn ſie ihn gewonnen haͤtte, ein Gluͤck

fuͤr
(*) Man ſagte von der Fr. Maintenon, daß ſie Lud-
wig den XIV von Frankreich in ſeinem Alter, da
er durch den ungluͤcklichen Fortgang im Felde
niedergeſchlagen war, beredet habe, ſie zu heyra-
then, damit er auf die Art ſein Gewiſſen wegen
des freyen Lebens in ſeinen vergangenen Jahren,
welchem ſie ſeinen Verluſt bey den oͤffentlichen
Angelegenheiten zuſchrieb, befriedigen moͤchte.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0050" n="44"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
&#x017F;ich zufa&#x0364;lliger Wei&#x017F;e dabey zugetragen hat, das<lb/>
konnte er weder a&#x0364;ndern, noch vorher&#x017F;ehen.</p><lb/>
          <p>Einigen Leuten i&#x017F;t eine Ritze von einer Na-<lb/>
del&#x017F;pitze eben &#x017F;o empfindlich, als andern ein<lb/>
Schwerdt&#x017F;treich: und wer kann die Empfindlich-<lb/>
keit &#x017F;olcher Men&#x017F;chen vertheidigen? Metcalfe<lb/>
wollte fu&#x0364;r &#x017F;eine Schwe&#x017F;ter zu&#x0364;rnen: da &#x017F;eine<lb/>
Schwe&#x017F;ter nicht fu&#x0364;r &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t zu&#x0364;rnete. Ha&#x0364;tte<lb/>
&#x017F;ie ihres Bruders Schutz und Ahndung verlan-<lb/>
get: &#x017F;o wu&#x0364;rde das eines <hi rendition="#fr">andern Mannes Sa-<lb/>
che</hi> gewe&#x017F;en &#x017F;eyn; wie mein Lord M. zu reden<lb/>
pflegt. Allein &#x017F;ie hielte &#x017F;elb&#x017F;t ihren Bruder fu&#x0364;r<lb/>
einen Thoren, daß er &#x017F;ich ungebeten in ihre Sa-<lb/>
chen mengte, und wu&#x0364;n&#x017F;chte nichts mehr, als auf<lb/>
eine an&#x017F;tandige Art und in geheim bey ihrem<lb/>
Wochenbette ver&#x017F;orget zu werden. Sie war ge-<lb/>
neigt, den Ver&#x017F;uch zu wagen, ob &#x017F;ie zu ihrem Be-<lb/>
&#x017F;ten <hi rendition="#fr">eine Maintenon</hi> u&#x0364;ber &#x017F;ein Gewi&#x017F;&#x017F;en <hi rendition="#fr">&#x017F;pie-<lb/>
len</hi> ko&#x0364;nnte <note place="foot" n="(*)">Man &#x017F;agte von der Fr. Maintenon, daß &#x017F;ie Lud-<lb/>
wig den <hi rendition="#aq">XIV</hi> von Frankreich in &#x017F;einem Alter, da<lb/>
er durch den unglu&#x0364;cklichen Fortgang im Felde<lb/>
niederge&#x017F;chlagen war, beredet habe, &#x017F;ie zu heyra-<lb/>
then, damit er auf die Art &#x017F;ein Gewi&#x017F;&#x017F;en wegen<lb/>
des freyen Lebens in &#x017F;einen vergangenen Jahren,<lb/>
welchem &#x017F;ie &#x017F;einen Verlu&#x017F;t bey den o&#x0364;ffentlichen<lb/>
Angelegenheiten zu&#x017F;chrieb, befriedigen mo&#x0364;chte.</note> und ihn zur Ehe zu bewegen ver-<lb/>
mo&#x0364;gend wa&#x0364;re, wenn der kleine Fremdling &#x017F;ich ein-<lb/>
&#x017F;tellte: denn &#x017F;ie wußte, was fu&#x0364;r ein bequemer,<lb/>
gutherziger Kerl er war. Und in der That wu&#x0364;r-<lb/>
de es, wenn &#x017F;ie ihn gewonnen <hi rendition="#fr">ha&#x0364;tte,</hi> ein Glu&#x0364;ck<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">fu&#x0364;r</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[44/0050] ſich zufaͤlliger Weiſe dabey zugetragen hat, das konnte er weder aͤndern, noch vorherſehen. Einigen Leuten iſt eine Ritze von einer Na- delſpitze eben ſo empfindlich, als andern ein Schwerdtſtreich: und wer kann die Empfindlich- keit ſolcher Menſchen vertheidigen? Metcalfe wollte fuͤr ſeine Schweſter zuͤrnen: da ſeine Schweſter nicht fuͤr ſich ſelbſt zuͤrnete. Haͤtte ſie ihres Bruders Schutz und Ahndung verlan- get: ſo wuͤrde das eines andern Mannes Sa- che geweſen ſeyn; wie mein Lord M. zu reden pflegt. Allein ſie hielte ſelbſt ihren Bruder fuͤr einen Thoren, daß er ſich ungebeten in ihre Sa- chen mengte, und wuͤnſchte nichts mehr, als auf eine anſtandige Art und in geheim bey ihrem Wochenbette verſorget zu werden. Sie war ge- neigt, den Verſuch zu wagen, ob ſie zu ihrem Be- ſten eine Maintenon uͤber ſein Gewiſſen ſpie- len koͤnnte (*) und ihn zur Ehe zu bewegen ver- moͤgend waͤre, wenn der kleine Fremdling ſich ein- ſtellte: denn ſie wußte, was fuͤr ein bequemer, gutherziger Kerl er war. Und in der That wuͤr- de es, wenn ſie ihn gewonnen haͤtte, ein Gluͤck fuͤr (*) Man ſagte von der Fr. Maintenon, daß ſie Lud- wig den XIV von Frankreich in ſeinem Alter, da er durch den ungluͤcklichen Fortgang im Felde niedergeſchlagen war, beredet habe, ſie zu heyra- then, damit er auf die Art ſein Gewiſſen wegen des freyen Lebens in ſeinen vergangenen Jahren, welchem ſie ſeinen Verluſt bey den oͤffentlichen Angelegenheiten zuſchrieb, befriedigen moͤchte.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa07_1751
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa07_1751/50
Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 7. Göttingen, 1751, S. 44. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa07_1751/50>, abgerufen am 29.03.2024.