Wenn nur ein todter Leib sich unsern Augen zeiget: Da lauter Wolken ihn mit Dunkelheit um- ziehn, Als müßte ihn so gar selbst unser Wissen fliehn. Dann folgen die Zeilen, welche ich angeführt habe: Kein Aufzug für den Tod kann trauriger ent- zücken, Als Krankheit vor ihm her, und Finsterniß im Rücken.
Ach! mein lieber Belford, schloß der un- glückliche Grübler, was für elende Geschöpfe, wie mich dieß überzeuget, sind wir Sterbliche, auch wenn es am besten mit uns stehet? - - - Aber wie muß es denn einem so verruchten Menschen gehen, als ich bin, der durch ein vergangenes und gottloses Leben diesem natürlichen Schrecken noch mehr Stärke gegeben hat? Jst der Tod der menschlichen Natur so zuwider, daß gottselige Leute darüber in Schrecken und Verwirrung ge- rathen werden: was muß er einem solchen seyn, der nach seinen sinnlichen Lüsten und Begierden gelebet, und niemals an das Ende, welches ich nun so nahe vor mir sehe, gedacht hat?
Was konnte ich zu einer so richtig gezogenen Folge sagen? Barmherzigkeit! Barmherzigkeit! unumschränkte Barmherzigkeit! war noch beständig das einzige, was ich ihm zu seiner Ve- ruhigung vorhalten konnte: ob er mich gleich
dadurch
B 4
Wenn nur ein todter Leib ſich unſern Augen zeiget: Da lauter Wolken ihn mit Dunkelheit um- ziehn, Als muͤßte ihn ſo gar ſelbſt unſer Wiſſen fliehn. Dann folgen die Zeilen, welche ich angefuͤhrt habe: Kein Aufzug fuͤr den Tod kann trauriger ent- zuͤcken, Als Krankheit vor ihm her, und Finſterniß im Ruͤcken.
Ach! mein lieber Belford, ſchloß der un- gluͤckliche Gruͤbler, was fuͤr elende Geſchoͤpfe, wie mich dieß uͤberzeuget, ſind wir Sterbliche, auch wenn es am beſten mit uns ſtehet? ‒ ‒ ‒ Aber wie muß es denn einem ſo verruchten Menſchen gehen, als ich bin, der durch ein vergangenes und gottloſes Leben dieſem natuͤrlichen Schrecken noch mehr Staͤrke gegeben hat? Jſt der Tod der menſchlichen Natur ſo zuwider, daß gottſelige Leute daruͤber in Schrecken und Verwirrung ge- rathen werden: was muß er einem ſolchen ſeyn, der nach ſeinen ſinnlichen Luͤſten und Begierden gelebet, und niemals an das Ende, welches ich nun ſo nahe vor mir ſehe, gedacht hat?
Was konnte ich zu einer ſo richtig gezogenen Folge ſagen? Barmherzigkeit! Barmherzigkeit! unumſchraͤnkte Barmherzigkeit! war noch beſtaͤndig das einzige, was ich ihm zu ſeiner Ve- ruhigung vorhalten konnte: ob er mich gleich
dadurch
B 4
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><lgtype="poem"><pbfacs="#f0029"n="23"/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><l>Wenn nur ein todter Leib ſich unſern Augen</l><lb/><l><hirendition="#et">zeiget:</hi></l><lb/><l>Da lauter Wolken ihn mit Dunkelheit um-</l><lb/><l><hirendition="#et">ziehn,</hi></l><lb/><l>Als muͤßte ihn ſo gar ſelbſt unſer Wiſſen fliehn.</l><lb/><note>Dann folgen die Zeilen, welche ich angefuͤhrt<lb/>
habe:</note><lb/><l>Kein Aufzug fuͤr den Tod kann trauriger ent-</l><lb/><l><hirendition="#et">zuͤcken,</hi></l><lb/><l>Als Krankheit vor ihm her, und Finſterniß</l><lb/><l><hirendition="#et">im Ruͤcken.</hi></l></lg><lb/><p>Ach! mein lieber Belford, ſchloß der un-<lb/>
gluͤckliche Gruͤbler, was fuͤr elende Geſchoͤpfe, wie<lb/>
mich dieß uͤberzeuget, ſind wir Sterbliche, auch<lb/>
wenn es am beſten mit uns ſtehet? ‒‒‒ Aber<lb/>
wie muß es denn einem ſo verruchten Menſchen<lb/>
gehen, als ich bin, der durch ein vergangenes und<lb/>
gottloſes Leben dieſem natuͤrlichen Schrecken noch<lb/>
mehr Staͤrke gegeben hat? Jſt der Tod der<lb/>
menſchlichen Natur ſo zuwider, daß <hirendition="#fr">gottſelige</hi><lb/>
Leute daruͤber in Schrecken und Verwirrung ge-<lb/>
rathen werden: was muß er einem ſolchen ſeyn,<lb/>
der nach ſeinen ſinnlichen Luͤſten und Begierden<lb/>
gelebet, und niemals an das Ende, welches ich<lb/>
nun ſo nahe vor mir ſehe, gedacht hat?</p><lb/><p>Was konnte ich zu einer ſo richtig gezogenen<lb/>
Folge ſagen? Barmherzigkeit! Barmherzigkeit!<lb/><hirendition="#fr">unumſchraͤnkte Barmherzigkeit!</hi> war noch<lb/>
beſtaͤndig das einzige, was ich ihm zu ſeiner Ve-<lb/>
ruhigung vorhalten konnte: ob er mich gleich<lb/><fwplace="bottom"type="sig">B 4</fw><fwplace="bottom"type="catch">dadurch</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[23/0029]
Wenn nur ein todter Leib ſich unſern Augen
zeiget:
Da lauter Wolken ihn mit Dunkelheit um-
ziehn,
Als muͤßte ihn ſo gar ſelbſt unſer Wiſſen fliehn.
Dann folgen die Zeilen, welche ich angefuͤhrt
habe:
Kein Aufzug fuͤr den Tod kann trauriger ent-
zuͤcken,
Als Krankheit vor ihm her, und Finſterniß
im Ruͤcken.
Ach! mein lieber Belford, ſchloß der un-
gluͤckliche Gruͤbler, was fuͤr elende Geſchoͤpfe, wie
mich dieß uͤberzeuget, ſind wir Sterbliche, auch
wenn es am beſten mit uns ſtehet? ‒ ‒ ‒ Aber
wie muß es denn einem ſo verruchten Menſchen
gehen, als ich bin, der durch ein vergangenes und
gottloſes Leben dieſem natuͤrlichen Schrecken noch
mehr Staͤrke gegeben hat? Jſt der Tod der
menſchlichen Natur ſo zuwider, daß gottſelige
Leute daruͤber in Schrecken und Verwirrung ge-
rathen werden: was muß er einem ſolchen ſeyn,
der nach ſeinen ſinnlichen Luͤſten und Begierden
gelebet, und niemals an das Ende, welches ich
nun ſo nahe vor mir ſehe, gedacht hat?
Was konnte ich zu einer ſo richtig gezogenen
Folge ſagen? Barmherzigkeit! Barmherzigkeit!
unumſchraͤnkte Barmherzigkeit! war noch
beſtaͤndig das einzige, was ich ihm zu ſeiner Ve-
ruhigung vorhalten konnte: ob er mich gleich
dadurch
B 4
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 7. Göttingen, 1751, S. 23. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa07_1751/29>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.