halbe Stunde tugendhaft seyn und ihre Clarissa nach dem Leben vorstellen.
Jch ward ganz zu einem Belford. Jch konnte eine solche Verspottung des lieben Kindes nicht leiden: denn ich bin hauptsächlich von einer sanften und edelmüthigen Natur; ihr möget den- ken, was ihr wollt. Jch fluchte mit dem größ- ten Eifer auf sie, daß sie auf eine solche Art den Namen derselben in den Mund nähme. Allein der kleine Teufel ließ sich nicht irren: sondern fing an zu weinen, zu gluchsen, zu bitten, zu fle- hen, zu klagen, und ohnmächtig zu werden; so daß ich niemals meiner liebenswürdigen Fräulein so wohl nachäffen gesehen habe. Jch war bey- nahe davon eingenommen: denn ich hätte mir vorstellen können, daß ich sie noch einmal vor mir hätte.
O was für ein Geschlecht! was für ein durch- triebenes Geschlecht ist dieses. Man kann sie nicht erforschen. Anfangs mag freylich ihre Trau- rigkeit und ihr Kummer unverstellt und wahrhaf- tig seyn. Allein man lasse nur dem Sturm freyen Lauf: so wird er sich bald legen und nach und nach auf ein sanftes Gemurmel hinauskommen, das in den Ohren eine eben so angenehm zitternde Bewegung machet, als die Töne einer wohlge- stimmten Violine. An Sarah sieht man, daß die Kunst überhaupt die Stelle der Natur so wohl vertreten wird, daß man den Unterschied nicht leicht merken wird. Die Fräulein Harlowe ist in der That, nach meinen Gedanken, die einzige
Weibs-
halbe Stunde tugendhaft ſeyn und ihre Clariſſa nach dem Leben vorſtellen.
Jch ward ganz zu einem Belford. Jch konnte eine ſolche Verſpottung des lieben Kindes nicht leiden: denn ich bin hauptſaͤchlich von einer ſanften und edelmuͤthigen Natur; ihr moͤget den- ken, was ihr wollt. Jch fluchte mit dem groͤß- ten Eifer auf ſie, daß ſie auf eine ſolche Art den Namen derſelben in den Mund naͤhme. Allein der kleine Teufel ließ ſich nicht irren: ſondern fing an zu weinen, zu gluchſen, zu bitten, zu fle- hen, zu klagen, und ohnmaͤchtig zu werden; ſo daß ich niemals meiner liebenswuͤrdigen Fraͤulein ſo wohl nachaͤffen geſehen habe. Jch war bey- nahe davon eingenommen: denn ich haͤtte mir vorſtellen koͤnnen, daß ich ſie noch einmal vor mir haͤtte.
O was fuͤr ein Geſchlecht! was fuͤr ein durch- triebenes Geſchlecht iſt dieſes. Man kann ſie nicht erforſchen. Anfangs mag freylich ihre Trau- rigkeit und ihr Kummer unverſtellt und wahrhaf- tig ſeyn. Allein man laſſe nur dem Sturm freyen Lauf: ſo wird er ſich bald legen und nach und nach auf ein ſanftes Gemurmel hinauskommen, das in den Ohren eine eben ſo angenehm zitternde Bewegung machet, als die Toͤne einer wohlge- ſtimmten Violine. An Sarah ſieht man, daß die Kunſt uͤberhaupt die Stelle der Natur ſo wohl vertreten wird, daß man den Unterſchied nicht leicht merken wird. Die Fraͤulein Harlowe iſt in der That, nach meinen Gedanken, die einzige
Weibs-
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0824"n="818"/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/>
halbe Stunde tugendhaft ſeyn und ihre Clariſſa<lb/>
nach dem Leben vorſtellen.</p><lb/><p>Jch ward ganz zu einem <hirendition="#fr">Belford.</hi> Jch<lb/>
konnte eine ſolche Verſpottung des lieben Kindes<lb/>
nicht leiden: denn ich bin hauptſaͤchlich von einer<lb/>ſanften und edelmuͤthigen Natur; ihr moͤget den-<lb/>
ken, was ihr wollt. Jch fluchte mit dem groͤß-<lb/>
ten Eifer auf ſie, daß ſie auf eine ſolche Art den<lb/>
Namen derſelben in den Mund naͤhme. Allein<lb/>
der kleine Teufel ließ ſich nicht irren: ſondern<lb/>
fing an zu weinen, zu gluchſen, zu bitten, zu fle-<lb/>
hen, zu klagen, und ohnmaͤchtig zu werden; ſo<lb/>
daß ich niemals meiner liebenswuͤrdigen Fraͤulein<lb/>ſo wohl nachaͤffen geſehen habe. Jch war bey-<lb/>
nahe davon eingenommen: denn ich haͤtte mir<lb/>
vorſtellen koͤnnen, daß ich ſie noch einmal vor mir<lb/>
haͤtte.</p><lb/><p>O was fuͤr ein Geſchlecht! was fuͤr ein durch-<lb/>
triebenes Geſchlecht iſt dieſes. Man kann ſie<lb/>
nicht erforſchen. Anfangs mag freylich ihre Trau-<lb/>
rigkeit und ihr Kummer unverſtellt und wahrhaf-<lb/>
tig ſeyn. Allein man laſſe nur dem Sturm freyen<lb/>
Lauf: ſo wird er ſich bald legen und nach und<lb/>
nach auf ein ſanftes Gemurmel hinauskommen,<lb/>
das in den Ohren eine eben ſo angenehm zitternde<lb/>
Bewegung machet, als die Toͤne einer wohlge-<lb/>ſtimmten Violine. An Sarah ſieht man, daß<lb/>
die Kunſt uͤberhaupt die Stelle der Natur ſo wohl<lb/>
vertreten wird, daß man den Unterſchied nicht<lb/>
leicht merken wird. Die Fraͤulein Harlowe iſt<lb/>
in der That, nach meinen Gedanken, die einzige<lb/><fwplace="bottom"type="catch">Weibs-</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[818/0824]
halbe Stunde tugendhaft ſeyn und ihre Clariſſa
nach dem Leben vorſtellen.
Jch ward ganz zu einem Belford. Jch
konnte eine ſolche Verſpottung des lieben Kindes
nicht leiden: denn ich bin hauptſaͤchlich von einer
ſanften und edelmuͤthigen Natur; ihr moͤget den-
ken, was ihr wollt. Jch fluchte mit dem groͤß-
ten Eifer auf ſie, daß ſie auf eine ſolche Art den
Namen derſelben in den Mund naͤhme. Allein
der kleine Teufel ließ ſich nicht irren: ſondern
fing an zu weinen, zu gluchſen, zu bitten, zu fle-
hen, zu klagen, und ohnmaͤchtig zu werden; ſo
daß ich niemals meiner liebenswuͤrdigen Fraͤulein
ſo wohl nachaͤffen geſehen habe. Jch war bey-
nahe davon eingenommen: denn ich haͤtte mir
vorſtellen koͤnnen, daß ich ſie noch einmal vor mir
haͤtte.
O was fuͤr ein Geſchlecht! was fuͤr ein durch-
triebenes Geſchlecht iſt dieſes. Man kann ſie
nicht erforſchen. Anfangs mag freylich ihre Trau-
rigkeit und ihr Kummer unverſtellt und wahrhaf-
tig ſeyn. Allein man laſſe nur dem Sturm freyen
Lauf: ſo wird er ſich bald legen und nach und
nach auf ein ſanftes Gemurmel hinauskommen,
das in den Ohren eine eben ſo angenehm zitternde
Bewegung machet, als die Toͤne einer wohlge-
ſtimmten Violine. An Sarah ſieht man, daß
die Kunſt uͤberhaupt die Stelle der Natur ſo wohl
vertreten wird, daß man den Unterſchied nicht
leicht merken wird. Die Fraͤulein Harlowe iſt
in der That, nach meinen Gedanken, die einzige
Weibs-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 6. Göttingen, 1750, S. 818. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa06_1750/824>, abgerufen am 27.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.