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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 6. Göttingen, 1750.

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Strafe, die ich ihm wünsche - - Jedoch ich muß
mehr zurückhalten: wo sie ihm alles schreiben,
was ich sage.

Jch erhob ihre unumschränkte Gütigkeit - -
Wie konnte ich anders: ob ich sie gleich dadurch
ins Gesicht lobte!

Keine Gütigkeit in diesem Stücke! sprach
sie - - Es wäre eine Gemüthsverfassung, welche
sie um ihrer selbst willen zu erlangen bemüht ge-
wesen. Sie litte zu viel, weil man ihr Barm-
herzigkeit versagte, daß sie dieselbe einem reuevol-
len Herzen nicht wünschen sollte - - Er scheinet
reuevoll zu seyn, setzte sie hinzu: und es kommt
mir nicht zu, weiter als nach den äußerlichen Zei-
chen zu urtheilen. - - Jst er es nicht: so betrügt
er sich selbst mehr, als sonst jemand.

Sie befand sich so übel, daß dieß alles war,
was bey dieser Gelegenheit vorfiel.

Was für einen feinen Stoff zu einem Trauerspiel
würde das Unrecht, welches dieser Fräulein wi-
derfahren ist, und ihr Bezeigen unter demselben,
so wohl in Ansehung ihrer unversöhnlichen Freun-
de, als in Ansehung ihres Verfolgers, an die
Hand geben! Jedoch würde in Betrachtung der
Sittenlehre ein starker Einwurf dagegen zu ma-
chen seyn (*); denn hier wird die Tugend ge-

straft
(*) Der Einwurf des Hernn Belfords, daß die Tu-
gend in einem Trauerspiel nicht leiden müsse, ist
nicht wohl bedacht. Monimia in dem Trauerspiel
die Wayse; Belvedera in dem erhaltenen Vene-
dig;



Strafe, die ich ihm wuͤnſche ‒ ‒ Jedoch ich muß
mehr zuruͤckhalten: wo ſie ihm alles ſchreiben,
was ich ſage.

Jch erhob ihre unumſchraͤnkte Guͤtigkeit ‒ ‒
Wie konnte ich anders: ob ich ſie gleich dadurch
ins Geſicht lobte!

Keine Guͤtigkeit in dieſem Stuͤcke! ſprach
ſie ‒ ‒ Es waͤre eine Gemuͤthsverfaſſung, welche
ſie um ihrer ſelbſt willen zu erlangen bemuͤht ge-
weſen. Sie litte zu viel, weil man ihr Barm-
herzigkeit verſagte, daß ſie dieſelbe einem reuevol-
len Herzen nicht wuͤnſchen ſollte ‒ ‒ Er ſcheinet
reuevoll zu ſeyn, ſetzte ſie hinzu: und es kommt
mir nicht zu, weiter als nach den aͤußerlichen Zei-
chen zu urtheilen. ‒ ‒ Jſt er es nicht: ſo betruͤgt
er ſich ſelbſt mehr, als ſonſt jemand.

Sie befand ſich ſo uͤbel, daß dieß alles war,
was bey dieſer Gelegenheit vorfiel.

Was fuͤr einen feinen Stoff zu einem Trauerſpiel
wuͤrde das Unrecht, welches dieſer Fraͤulein wi-
derfahren iſt, und ihr Bezeigen unter demſelben,
ſo wohl in Anſehung ihrer unverſoͤhnlichen Freun-
de, als in Anſehung ihres Verfolgers, an die
Hand geben! Jedoch wuͤrde in Betrachtung der
Sittenlehre ein ſtarker Einwurf dagegen zu ma-
chen ſeyn (*); denn hier wird die Tugend ge-

ſtraft
(*) Der Einwurf des Hernn Belfords, daß die Tu-
gend in einem Trauerſpiel nicht leiden muͤſſe, iſt
nicht wohl bedacht. Monimia in dem Trauerſpiel
die Wayſe; Belvedera in dem erhaltenen Vene-
dig;
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[778/0784] Strafe, die ich ihm wuͤnſche ‒ ‒ Jedoch ich muß mehr zuruͤckhalten: wo ſie ihm alles ſchreiben, was ich ſage. Jch erhob ihre unumſchraͤnkte Guͤtigkeit ‒ ‒ Wie konnte ich anders: ob ich ſie gleich dadurch ins Geſicht lobte! Keine Guͤtigkeit in dieſem Stuͤcke! ſprach ſie ‒ ‒ Es waͤre eine Gemuͤthsverfaſſung, welche ſie um ihrer ſelbſt willen zu erlangen bemuͤht ge- weſen. Sie litte zu viel, weil man ihr Barm- herzigkeit verſagte, daß ſie dieſelbe einem reuevol- len Herzen nicht wuͤnſchen ſollte ‒ ‒ Er ſcheinet reuevoll zu ſeyn, ſetzte ſie hinzu: und es kommt mir nicht zu, weiter als nach den aͤußerlichen Zei- chen zu urtheilen. ‒ ‒ Jſt er es nicht: ſo betruͤgt er ſich ſelbſt mehr, als ſonſt jemand. Sie befand ſich ſo uͤbel, daß dieß alles war, was bey dieſer Gelegenheit vorfiel. Was fuͤr einen feinen Stoff zu einem Trauerſpiel wuͤrde das Unrecht, welches dieſer Fraͤulein wi- derfahren iſt, und ihr Bezeigen unter demſelben, ſo wohl in Anſehung ihrer unverſoͤhnlichen Freun- de, als in Anſehung ihres Verfolgers, an die Hand geben! Jedoch wuͤrde in Betrachtung der Sittenlehre ein ſtarker Einwurf dagegen zu ma- chen ſeyn (*); denn hier wird die Tugend ge- ſtraft (*) Der Einwurf des Hernn Belfords, daß die Tu- gend in einem Trauerſpiel nicht leiden muͤſſe, iſt nicht wohl bedacht. Monimia in dem Trauerſpiel die Wayſe; Belvedera in dem erhaltenen Vene- dig;

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Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 6. Göttingen, 1750, S. 778. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa06_1750/784>, abgerufen am 23.11.2024.