Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 6. Göttingen, 1750.

Bild:
<< vorherige Seite



vor ferneren gewaltsamen Beschimpfungen, wel-
che vielleicht noch gegen Sie könnten unternom-
men werden, von Jhrem Vater zu erlangen, voll-
kommenen Beweis gegeben hätten. Aber als-
denn würde Jhre Schwester vermuthlich die
Briefe zu sehen und mit sich zu Jhrer Familie
zu nehmen verlanget haben.

Sie müssen doch einmal die betrübte Ge-
schichte erfahren. Es ist unmöglich, daß sie
nicht Mitleiden mit Jhnen haben, und Jhnen
nicht vergeben sollten: wenn sie Jhre srühe Reue
und Jhr unverschuldetes Leiden erfahren; wenn
sie hören, daß Sie durch die unmenschliche Ge-
walt eines ungeheuren Räubers, und nicht durch
die schändlichen Kunstgriffe eines verführerischen
Liebhabers, gefallen sind.

Der gottlose Mensch giebt bey dem Lord M.
vor, wie mir Fräulein Harlowe erzählet, daß er
wirklich mit Jhnen vermählet sey. - - Jedoch
glaubet sie es nicht: und ich hatte auch nicht das
Herz, ihr die Wahrheit zu sagen.

Sie legte es mir sehr nahe, ob ich nicht mit
Jhnen von der Zeit an, da Sie weggegangen
wären, Briefe gewechselt hätte. Jch konnte
ihr sicher Nachricht geben, wie ich that, daß es
nicht geschehen wäre. Allein ich gestand zu-
gleich, mir wäre zuverläßig gemeldet, daß Sie
Jhres Vaters Fluch ungemein zu Herzen näh-
men, und setzte hinzu, es würde ein gutes und
schwesterliches Werk von ihr seyn, wenn sie sich

ange-
E 2



vor ferneren gewaltſamen Beſchimpfungen, wel-
che vielleicht noch gegen Sie koͤnnten unternom-
men werden, von Jhrem Vater zu erlangen, voll-
kommenen Beweis gegeben haͤtten. Aber als-
denn wuͤrde Jhre Schweſter vermuthlich die
Briefe zu ſehen und mit ſich zu Jhrer Familie
zu nehmen verlanget haben.

Sie muͤſſen doch einmal die betruͤbte Ge-
ſchichte erfahren. Es iſt unmoͤglich, daß ſie
nicht Mitleiden mit Jhnen haben, und Jhnen
nicht vergeben ſollten: wenn ſie Jhre ſruͤhe Reue
und Jhr unverſchuldetes Leiden erfahren; wenn
ſie hoͤren, daß Sie durch die unmenſchliche Ge-
walt eines ungeheuren Raͤubers, und nicht durch
die ſchaͤndlichen Kunſtgriffe eines verfuͤhreriſchen
Liebhabers, gefallen ſind.

Der gottloſe Menſch giebt bey dem Lord M.
vor, wie mir Fraͤulein Harlowe erzaͤhlet, daß er
wirklich mit Jhnen vermaͤhlet ſey. ‒ ‒ Jedoch
glaubet ſie es nicht: und ich hatte auch nicht das
Herz, ihr die Wahrheit zu ſagen.

Sie legte es mir ſehr nahe, ob ich nicht mit
Jhnen von der Zeit an, da Sie weggegangen
waͤren, Briefe gewechſelt haͤtte. Jch konnte
ihr ſicher Nachricht geben, wie ich that, daß es
nicht geſchehen waͤre. Allein ich geſtand zu-
gleich, mir waͤre zuverlaͤßig gemeldet, daß Sie
Jhres Vaters Fluch ungemein zu Herzen naͤh-
men, und ſetzte hinzu, es wuͤrde ein gutes und
ſchweſterliches Werk von ihr ſeyn, wenn ſie ſich

ange-
E 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0073" n="67"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
vor ferneren gewalt&#x017F;amen Be&#x017F;chimpfungen, wel-<lb/>
che vielleicht noch gegen Sie ko&#x0364;nnten unternom-<lb/>
men werden, von Jhrem Vater zu erlangen, voll-<lb/>
kommenen Beweis gegeben ha&#x0364;tten. Aber als-<lb/>
denn wu&#x0364;rde Jhre Schwe&#x017F;ter vermuthlich die<lb/>
Briefe zu &#x017F;ehen und mit &#x017F;ich zu Jhrer Familie<lb/>
zu nehmen verlanget haben.</p><lb/>
          <p>Sie <hi rendition="#fr">mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en</hi> doch einmal die betru&#x0364;bte Ge-<lb/>
&#x017F;chichte erfahren. Es i&#x017F;t unmo&#x0364;glich, daß &#x017F;ie<lb/>
nicht Mitleiden mit Jhnen haben, und Jhnen<lb/>
nicht vergeben &#x017F;ollten: wenn &#x017F;ie Jhre &#x017F;ru&#x0364;he Reue<lb/>
und Jhr unver&#x017F;chuldetes Leiden erfahren; wenn<lb/>
&#x017F;ie ho&#x0364;ren, daß Sie durch die unmen&#x017F;chliche Ge-<lb/>
walt eines ungeheuren Ra&#x0364;ubers, und nicht durch<lb/>
die &#x017F;cha&#x0364;ndlichen Kun&#x017F;tgriffe eines verfu&#x0364;hreri&#x017F;chen<lb/>
Liebhabers, gefallen &#x017F;ind.</p><lb/>
          <p>Der gottlo&#x017F;e Men&#x017F;ch giebt bey dem Lord M.<lb/>
vor, wie mir Fra&#x0364;ulein Harlowe erza&#x0364;hlet, daß er<lb/>
wirklich mit Jhnen verma&#x0364;hlet &#x017F;ey. &#x2012; &#x2012; Jedoch<lb/>
glaubet &#x017F;ie es nicht: und ich hatte auch nicht das<lb/>
Herz, ihr die Wahrheit zu &#x017F;agen.</p><lb/>
          <p>Sie legte es mir &#x017F;ehr nahe, ob ich nicht mit<lb/>
Jhnen von der Zeit an, da Sie weggegangen<lb/>
wa&#x0364;ren, Briefe gewech&#x017F;elt ha&#x0364;tte. Jch konnte<lb/>
ihr &#x017F;icher Nachricht geben, wie ich that, daß es<lb/>
nicht ge&#x017F;chehen wa&#x0364;re. Allein ich ge&#x017F;tand zu-<lb/>
gleich, mir wa&#x0364;re zuverla&#x0364;ßig gemeldet, daß Sie<lb/>
Jhres Vaters Fluch ungemein zu Herzen na&#x0364;h-<lb/>
men, und &#x017F;etzte hinzu, es wu&#x0364;rde ein gutes und<lb/>
&#x017F;chwe&#x017F;terliches Werk von ihr &#x017F;eyn, wenn &#x017F;ie &#x017F;ich<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">E 2</fw><fw place="bottom" type="catch">ange-</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[67/0073] vor ferneren gewaltſamen Beſchimpfungen, wel- che vielleicht noch gegen Sie koͤnnten unternom- men werden, von Jhrem Vater zu erlangen, voll- kommenen Beweis gegeben haͤtten. Aber als- denn wuͤrde Jhre Schweſter vermuthlich die Briefe zu ſehen und mit ſich zu Jhrer Familie zu nehmen verlanget haben. Sie muͤſſen doch einmal die betruͤbte Ge- ſchichte erfahren. Es iſt unmoͤglich, daß ſie nicht Mitleiden mit Jhnen haben, und Jhnen nicht vergeben ſollten: wenn ſie Jhre ſruͤhe Reue und Jhr unverſchuldetes Leiden erfahren; wenn ſie hoͤren, daß Sie durch die unmenſchliche Ge- walt eines ungeheuren Raͤubers, und nicht durch die ſchaͤndlichen Kunſtgriffe eines verfuͤhreriſchen Liebhabers, gefallen ſind. Der gottloſe Menſch giebt bey dem Lord M. vor, wie mir Fraͤulein Harlowe erzaͤhlet, daß er wirklich mit Jhnen vermaͤhlet ſey. ‒ ‒ Jedoch glaubet ſie es nicht: und ich hatte auch nicht das Herz, ihr die Wahrheit zu ſagen. Sie legte es mir ſehr nahe, ob ich nicht mit Jhnen von der Zeit an, da Sie weggegangen waͤren, Briefe gewechſelt haͤtte. Jch konnte ihr ſicher Nachricht geben, wie ich that, daß es nicht geſchehen waͤre. Allein ich geſtand zu- gleich, mir waͤre zuverlaͤßig gemeldet, daß Sie Jhres Vaters Fluch ungemein zu Herzen naͤh- men, und ſetzte hinzu, es wuͤrde ein gutes und ſchweſterliches Werk von ihr ſeyn, wenn ſie ſich ange- E 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa06_1750
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa06_1750/73
Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 6. Göttingen, 1750, S. 67. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa06_1750/73>, abgerufen am 18.05.2024.