Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 6. Göttingen, 1750.

Bild:
<< vorherige Seite



ein trauriges Vergnügen wird es mir geben, da
sie beständig schreibt, ihre Papiere durchzusehen
und in Ordnung zu bringen. Bey einer so hold-
seligen Gemüthsart, bey so vieler Gedult und Er-
gebung, doch mitten unter den gegenwärtigen
Drangsalen von diesen Drangsalen zu schreiben!
O wie viel lebhafter und rührender muß, aus
dieser Ursache, ihre Schreibart seyn, als alles, was
man in der trocknen, geschichtmäßigen und unbe-
lebten Schreibart anderer Personen lesen kann,
welche die Schwierigkeiten und Gefahr, die sie
überstiegen haben, erzählen! Da die Gemüther
solcher Leute nicht unter zweifelhafter Erwartung
leiden, nicht durch die Marter der Ungewißheit
gequält werden, sondern im Gegentheil ganz ge-
ruhig sind. Wenn der Erzähler selbst durch sei-
ne eigne Geschichte nicht beweget wird: wie soll
er im Stande seyn, den Zuhörer oder Leser zu be-
wegen?

Sonnabends frühe, den 5ten Aug.

Jch bin eben von einem Besuch bey der Fräu-
lein zurückgekommen. Jch habe ihr in Per-
son für die Ehre, die sie mir gethan hat, Dank ge-
saget, und sie der äußersten Treue und Sorgfalt
versichert, wenn ich zu dem geheiligten Amt ge-
fordert werden sollte. Jch fand sie sehr schlecht,
und gab es ihr zu erkennen. Sie sagte mir da-
her, daß sie einen zweyten hartherzigen Brief von
ihrer Schwester bekommen, und darauf gerades-
weges, und zwar auf ihren Knieen an ihre Mut-

ter



ein trauriges Vergnuͤgen wird es mir geben, da
ſie beſtaͤndig ſchreibt, ihre Papiere durchzuſehen
und in Ordnung zu bringen. Bey einer ſo hold-
ſeligen Gemuͤthsart, bey ſo vieler Gedult und Er-
gebung, doch mitten unter den gegenwaͤrtigen
Drangſalen von dieſen Drangſalen zu ſchreiben!
O wie viel lebhafter und ruͤhrender muß, aus
dieſer Urſache, ihre Schreibart ſeyn, als alles, was
man in der trocknen, geſchichtmaͤßigen und unbe-
lebten Schreibart anderer Perſonen leſen kann,
welche die Schwierigkeiten und Gefahr, die ſie
uͤberſtiegen haben, erzaͤhlen! Da die Gemuͤther
ſolcher Leute nicht unter zweifelhafter Erwartung
leiden, nicht durch die Marter der Ungewißheit
gequaͤlt werden, ſondern im Gegentheil ganz ge-
ruhig ſind. Wenn der Erzaͤhler ſelbſt durch ſei-
ne eigne Geſchichte nicht beweget wird: wie ſoll
er im Stande ſeyn, den Zuhoͤrer oder Leſer zu be-
wegen?

Sonnabends fruͤhe, den 5ten Aug.

Jch bin eben von einem Beſuch bey der Fraͤu-
lein zuruͤckgekommen. Jch habe ihr in Per-
ſon fuͤr die Ehre, die ſie mir gethan hat, Dank ge-
ſaget, und ſie der aͤußerſten Treue und Sorgfalt
verſichert, wenn ich zu dem geheiligten Amt ge-
fordert werden ſollte. Jch fand ſie ſehr ſchlecht,
und gab es ihr zu erkennen. Sie ſagte mir da-
her, daß ſie einen zweyten hartherzigen Brief von
ihrer Schweſter bekommen, und darauf gerades-
weges, und zwar auf ihren Knieen an ihre Mut-

ter
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0696" n="690"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
ein trauriges Vergnu&#x0364;gen wird es mir geben, da<lb/>
&#x017F;ie be&#x017F;ta&#x0364;ndig &#x017F;chreibt, ihre Papiere durchzu&#x017F;ehen<lb/>
und in Ordnung zu bringen. Bey einer &#x017F;o hold-<lb/>
&#x017F;eligen Gemu&#x0364;thsart, bey &#x017F;o vieler Gedult und Er-<lb/>
gebung, doch mitten unter den <hi rendition="#fr">gegenwa&#x0364;rtigen</hi><lb/>
Drang&#x017F;alen von die&#x017F;en Drang&#x017F;alen zu &#x017F;chreiben!<lb/>
O wie viel lebhafter und ru&#x0364;hrender muß, aus<lb/>
die&#x017F;er Ur&#x017F;ache, ihre Schreibart &#x017F;eyn, als alles, was<lb/>
man in der trocknen, ge&#x017F;chichtma&#x0364;ßigen und unbe-<lb/>
lebten Schreibart anderer Per&#x017F;onen le&#x017F;en kann,<lb/>
welche die Schwierigkeiten und Gefahr, die &#x017F;ie<lb/>
u&#x0364;ber&#x017F;tiegen haben, erza&#x0364;hlen! Da die Gemu&#x0364;ther<lb/>
&#x017F;olcher Leute nicht unter zweifelhafter Erwartung<lb/>
leiden, nicht durch die Marter der Ungewißheit<lb/>
gequa&#x0364;lt werden, &#x017F;ondern im Gegentheil ganz ge-<lb/>
ruhig &#x017F;ind. Wenn der Erza&#x0364;hler &#x017F;elb&#x017F;t durch &#x017F;ei-<lb/>
ne eigne Ge&#x017F;chichte nicht beweget wird: wie &#x017F;oll<lb/>
er im Stande &#x017F;eyn, den Zuho&#x0364;rer oder Le&#x017F;er zu be-<lb/>
wegen?</p><lb/>
          <p> <hi rendition="#et">Sonnabends fru&#x0364;he, den 5ten Aug.</hi> </p><lb/>
          <p><hi rendition="#in">J</hi>ch bin eben von einem Be&#x017F;uch bey der Fra&#x0364;u-<lb/>
lein zuru&#x0364;ckgekommen. Jch habe ihr in Per-<lb/>
&#x017F;on fu&#x0364;r die Ehre, die &#x017F;ie mir gethan hat, Dank ge-<lb/>
&#x017F;aget, und &#x017F;ie der a&#x0364;ußer&#x017F;ten Treue und Sorgfalt<lb/>
ver&#x017F;ichert, wenn ich zu dem geheiligten Amt ge-<lb/>
fordert werden &#x017F;ollte. Jch fand &#x017F;ie &#x017F;ehr &#x017F;chlecht,<lb/>
und gab es ihr zu erkennen. Sie &#x017F;agte mir da-<lb/>
her, daß &#x017F;ie einen zweyten hartherzigen Brief von<lb/>
ihrer Schwe&#x017F;ter bekommen, und darauf gerades-<lb/>
weges, und zwar auf ihren Knieen an ihre Mut-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">ter</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[690/0696] ein trauriges Vergnuͤgen wird es mir geben, da ſie beſtaͤndig ſchreibt, ihre Papiere durchzuſehen und in Ordnung zu bringen. Bey einer ſo hold- ſeligen Gemuͤthsart, bey ſo vieler Gedult und Er- gebung, doch mitten unter den gegenwaͤrtigen Drangſalen von dieſen Drangſalen zu ſchreiben! O wie viel lebhafter und ruͤhrender muß, aus dieſer Urſache, ihre Schreibart ſeyn, als alles, was man in der trocknen, geſchichtmaͤßigen und unbe- lebten Schreibart anderer Perſonen leſen kann, welche die Schwierigkeiten und Gefahr, die ſie uͤberſtiegen haben, erzaͤhlen! Da die Gemuͤther ſolcher Leute nicht unter zweifelhafter Erwartung leiden, nicht durch die Marter der Ungewißheit gequaͤlt werden, ſondern im Gegentheil ganz ge- ruhig ſind. Wenn der Erzaͤhler ſelbſt durch ſei- ne eigne Geſchichte nicht beweget wird: wie ſoll er im Stande ſeyn, den Zuhoͤrer oder Leſer zu be- wegen? Sonnabends fruͤhe, den 5ten Aug. Jch bin eben von einem Beſuch bey der Fraͤu- lein zuruͤckgekommen. Jch habe ihr in Per- ſon fuͤr die Ehre, die ſie mir gethan hat, Dank ge- ſaget, und ſie der aͤußerſten Treue und Sorgfalt verſichert, wenn ich zu dem geheiligten Amt ge- fordert werden ſollte. Jch fand ſie ſehr ſchlecht, und gab es ihr zu erkennen. Sie ſagte mir da- her, daß ſie einen zweyten hartherzigen Brief von ihrer Schweſter bekommen, und darauf gerades- weges, und zwar auf ihren Knieen an ihre Mut- ter

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa06_1750
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa06_1750/696
Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 6. Göttingen, 1750, S. 690. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa06_1750/696>, abgerufen am 16.07.2024.