Mir ist bange, ich werde eine harte Antwort von ihr bekommen. Mein Vergehen ist in den Augen meiner Familie so greulich, daß meine er- ste Vorstellung schwerlich Eingang finden wird. Außer dem wissen sie nicht, und werden es auch vielleicht nicht glauben, daß ich mich so gar schlecht befinde, als in der That wahr ist. Sollte ich also wirklich vorher sterben, ehe sie Zeit haben könnten, die nöthigen Erkundigungen einzuziehen: so müssen Sie keine zu strenge Urtheile über sie fällen. Sie müssen es ein unglückliches Schick- sal nennen: Jch weiß selbst nicht, wie Sie es nennen müssen: denn ich habe dieselben, leider! in eben so viel Jammer gebracht, als mir selbst zu Theil geworden ist. Und gleichwohl weiß ich, nach meinen Gedanken, bisweilen nicht, ob mein Kummer, daß ich sie beleidigt habe, sich nicht ver- größern würde, wenn sie mir liebreich Vergebung ankündigen sollten: indem ich mir vorstelle, daß nichts ein edelgesinntes Gemüth mehr verwunden könne, als eine großmüthige Verzeihung.
Jch hoffe, Jhre Fr. Mutter werde unsern Briefwechsel noch auf einen Monat erlauben: ob ich gleich ihrem Rath, diesen Mann zu neh- men, nicht folge. Nur auf einen Monat. Wenn große Veränderungen nahe bevorstehen: was für Wechsel; Wechsel, wovor einem das Herz erzittert, wenn man daran gedenket; kann alsdenn ein kurzer Monat ans Licht bringen! - - Aber, wo sie nicht will: - - wohlan, meine Wer-
theste,
Sechster Theil. J i
Mir iſt bange, ich werde eine harte Antwort von ihr bekommen. Mein Vergehen iſt in den Augen meiner Familie ſo greulich, daß meine er- ſte Vorſtellung ſchwerlich Eingang finden wird. Außer dem wiſſen ſie nicht, und werden es auch vielleicht nicht glauben, daß ich mich ſo gar ſchlecht befinde, als in der That wahr iſt. Sollte ich alſo wirklich vorher ſterben, ehe ſie Zeit haben koͤnnten, die noͤthigen Erkundigungen einzuziehen: ſo muͤſſen Sie keine zu ſtrenge Urtheile uͤber ſie faͤllen. Sie muͤſſen es ein ungluͤckliches Schick- ſal nennen: Jch weiß ſelbſt nicht, wie Sie es nennen muͤſſen: denn ich habe dieſelben, leider! in eben ſo viel Jammer gebracht, als mir ſelbſt zu Theil geworden iſt. Und gleichwohl weiß ich, nach meinen Gedanken, bisweilen nicht, ob mein Kummer, daß ich ſie beleidigt habe, ſich nicht ver- groͤßern wuͤrde, wenn ſie mir liebreich Vergebung ankuͤndigen ſollten: indem ich mir vorſtelle, daß nichts ein edelgeſinntes Gemuͤth mehr verwunden koͤnne, als eine großmuͤthige Verzeihung.
Jch hoffe, Jhre Fr. Mutter werde unſern Briefwechſel noch auf einen Monat erlauben: ob ich gleich ihrem Rath, dieſen Mann zu neh- men, nicht folge. Nur auf einen Monat. Wenn große Veraͤnderungen nahe bevorſtehen: was fuͤr Wechſel; Wechſel, wovor einem das Herz erzittert, wenn man daran gedenket; kann alsdenn ein kurzer Monat ans Licht bringen! ‒ ‒ Aber, wo ſie nicht will: ‒ ‒ wohlan, meine Wer-
theſte,
Sechſter Theil. J i
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0503"n="497"/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><p>Mir iſt bange, ich werde eine harte Antwort<lb/>
von ihr bekommen. Mein Vergehen iſt in den<lb/>
Augen meiner Familie ſo greulich, daß meine <hirendition="#fr">er-<lb/>ſte</hi> Vorſtellung ſchwerlich Eingang finden wird.<lb/>
Außer dem wiſſen ſie nicht, und werden es auch<lb/>
vielleicht nicht glauben, daß ich mich ſo gar ſchlecht<lb/>
befinde, als in der That wahr iſt. Sollte ich<lb/>
alſo wirklich vorher ſterben, ehe ſie Zeit haben<lb/>
koͤnnten, die noͤthigen Erkundigungen einzuziehen:<lb/>ſo muͤſſen Sie keine zu ſtrenge Urtheile uͤber ſie<lb/>
faͤllen. Sie muͤſſen es ein ungluͤckliches Schick-<lb/>ſal nennen: Jch weiß ſelbſt nicht, wie Sie es<lb/>
nennen muͤſſen: denn ich habe dieſelben, leider!<lb/>
in eben ſo viel Jammer gebracht, als mir ſelbſt<lb/>
zu Theil geworden iſt. Und gleichwohl weiß ich,<lb/>
nach meinen Gedanken, bisweilen nicht, ob mein<lb/>
Kummer, daß ich ſie beleidigt habe, ſich nicht ver-<lb/>
groͤßern wuͤrde, wenn ſie mir liebreich Vergebung<lb/>
ankuͤndigen ſollten: indem ich mir vorſtelle, daß<lb/>
nichts ein edelgeſinntes Gemuͤth mehr verwunden<lb/>
koͤnne, als eine <hirendition="#fr">großmuͤthige Verzeihung.</hi></p><lb/><p>Jch hoffe, Jhre Fr. Mutter werde unſern<lb/>
Briefwechſel noch auf <hirendition="#fr">einen</hi> Monat erlauben:<lb/>
ob ich gleich ihrem Rath, dieſen Mann zu neh-<lb/>
men, nicht folge. Nur auf <hirendition="#fr">einen</hi> Monat.<lb/>
Wenn große Veraͤnderungen nahe bevorſtehen:<lb/>
was fuͤr Wechſel; Wechſel, wovor einem das<lb/>
Herz erzittert, wenn man daran gedenket; kann<lb/>
alsdenn <hirendition="#fr">ein</hi> kurzer Monat ans Licht bringen! ‒‒<lb/>
Aber, wo ſie nicht will: ‒‒ wohlan, meine Wer-<lb/><fwplace="bottom"type="sig"><hirendition="#fr">Sechſter Theil.</hi> J i</fw><fwplace="bottom"type="catch">theſte,</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[497/0503]
Mir iſt bange, ich werde eine harte Antwort
von ihr bekommen. Mein Vergehen iſt in den
Augen meiner Familie ſo greulich, daß meine er-
ſte Vorſtellung ſchwerlich Eingang finden wird.
Außer dem wiſſen ſie nicht, und werden es auch
vielleicht nicht glauben, daß ich mich ſo gar ſchlecht
befinde, als in der That wahr iſt. Sollte ich
alſo wirklich vorher ſterben, ehe ſie Zeit haben
koͤnnten, die noͤthigen Erkundigungen einzuziehen:
ſo muͤſſen Sie keine zu ſtrenge Urtheile uͤber ſie
faͤllen. Sie muͤſſen es ein ungluͤckliches Schick-
ſal nennen: Jch weiß ſelbſt nicht, wie Sie es
nennen muͤſſen: denn ich habe dieſelben, leider!
in eben ſo viel Jammer gebracht, als mir ſelbſt
zu Theil geworden iſt. Und gleichwohl weiß ich,
nach meinen Gedanken, bisweilen nicht, ob mein
Kummer, daß ich ſie beleidigt habe, ſich nicht ver-
groͤßern wuͤrde, wenn ſie mir liebreich Vergebung
ankuͤndigen ſollten: indem ich mir vorſtelle, daß
nichts ein edelgeſinntes Gemuͤth mehr verwunden
koͤnne, als eine großmuͤthige Verzeihung.
Jch hoffe, Jhre Fr. Mutter werde unſern
Briefwechſel noch auf einen Monat erlauben:
ob ich gleich ihrem Rath, dieſen Mann zu neh-
men, nicht folge. Nur auf einen Monat.
Wenn große Veraͤnderungen nahe bevorſtehen:
was fuͤr Wechſel; Wechſel, wovor einem das
Herz erzittert, wenn man daran gedenket; kann
alsdenn ein kurzer Monat ans Licht bringen! ‒ ‒
Aber, wo ſie nicht will: ‒ ‒ wohlan, meine Wer-
theſte,
Sechſter Theil. J i
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 6. Göttingen, 1750, S. 497. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa06_1750/503>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.