Sie an meine Schicksale erinnere. Denn wer hat mehr Kreuz gehabt, als ich?
Jch will von dem Verluste einer unvergleich- lichen Mutter, zu der Zeit, da man die mütter- liche Fürsorge am meisten brauchet, nichts ge- denken. Der Tod eines lieben Vaters, der eine Zierde des geiftlichen Standes war, und mich geschickt gemacht hatte, seine Schreiberinn zu seyn, trieb mich eben, als er eine Beförderung zu ei- ner Pfarre vor sich sahe, welche seine Familie in gute Umstände gesetzt haben würde, ohne irgend einen Freund in die weite Welt, und einem sehr unachtsamen, und, welches noch ärger war, einen sehr unfreundlichen Manne in die Arme. Ein elender Mann! - - Aber er hatte, Gott sey Dank, bey einer verdrieslichen Krankheit, noch Zeit genug, seine versäumte Gelegenheit, und seine schlechten Grundsätze zu bereuen. Daran habe ich allezeit mit Vergnügen gedacht: ob ich gleich seiner beschwerlichen Krankheit wegen noch desto dürftiger hinterlassen wurde, und eben mit meinem Thomas niederkommen sollte, als er starb.
Diesen Umstand hielte ich für den unglücklich- sten, worinn ich hätte können hinterlassen wer- den. So kurzsichtig ist die menschliche Klugheit. Aber er ward eben das glückliche Mittel, mich Jhrer Mutter zu empfehlen, welche in Betrach- tung meines guten Rufes, und aus Mitleiden gegen meinen recht dürftigen Zustand, mir er- laubte, weil ich mir ein Gewissen machte, mein
armes
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Sie an meine Schickſale erinnere. Denn wer hat mehr Kreuz gehabt, als ich?
Jch will von dem Verluſte einer unvergleich- lichen Mutter, zu der Zeit, da man die muͤtter- liche Fuͤrſorge am meiſten brauchet, nichts ge- denken. Der Tod eines lieben Vaters, der eine Zierde des geiftlichen Standes war, und mich geſchickt gemacht hatte, ſeine Schreiberinn zu ſeyn, trieb mich eben, als er eine Befoͤrderung zu ei- ner Pfarre vor ſich ſahe, welche ſeine Familie in gute Umſtaͤnde geſetzt haben wuͤrde, ohne irgend einen Freund in die weite Welt, und einem ſehr unachtſamen, und, welches noch aͤrger war, einen ſehr unfreundlichen Manne in die Arme. Ein elender Mann! ‒ ‒ Aber er hatte, Gott ſey Dank, bey einer verdrieslichen Krankheit, noch Zeit genug, ſeine verſaͤumte Gelegenheit, und ſeine ſchlechten Grundſaͤtze zu bereuen. Daran habe ich allezeit mit Vergnuͤgen gedacht: ob ich gleich ſeiner beſchwerlichen Krankheit wegen noch deſto duͤrftiger hinterlaſſen wurde, und eben mit meinem Thomas niederkommen ſollte, als er ſtarb.
Dieſen Umſtand hielte ich fuͤr den ungluͤcklich- ſten, worinn ich haͤtte koͤnnen hinterlaſſen wer- den. So kurzſichtig iſt die menſchliche Klugheit. Aber er ward eben das gluͤckliche Mittel, mich Jhrer Mutter zu empfehlen, welche in Betrach- tung meines guten Rufes, und aus Mitleiden gegen meinen recht duͤrftigen Zuſtand, mir er- laubte, weil ich mir ein Gewiſſen machte, mein
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Sie an meine Schickſale erinnere. Denn wer
hat mehr Kreuz gehabt, als ich?
Jch will von dem Verluſte einer unvergleich-
lichen Mutter, zu der Zeit, da man die muͤtter-
liche Fuͤrſorge am meiſten brauchet, nichts ge-
denken. Der Tod eines lieben Vaters, der eine
Zierde des geiftlichen Standes war, und mich
geſchickt gemacht hatte, ſeine Schreiberinn zu ſeyn,
trieb mich eben, als er eine Befoͤrderung zu ei-
ner Pfarre vor ſich ſahe, welche ſeine Familie in
gute Umſtaͤnde geſetzt haben wuͤrde, ohne irgend
einen Freund in die weite Welt, und einem ſehr
unachtſamen, und, welches noch aͤrger war, einen
ſehr unfreundlichen Manne in die Arme. Ein
elender Mann! ‒ ‒ Aber er hatte, Gott ſey
Dank, bey einer verdrieslichen Krankheit, noch
Zeit genug, ſeine verſaͤumte Gelegenheit, und
ſeine ſchlechten Grundſaͤtze zu bereuen. Daran
habe ich allezeit mit Vergnuͤgen gedacht: ob ich
gleich ſeiner beſchwerlichen Krankheit wegen noch
deſto duͤrftiger hinterlaſſen wurde, und eben mit
meinem Thomas niederkommen ſollte, als er
ſtarb.
Dieſen Umſtand hielte ich fuͤr den ungluͤcklich-
ſten, worinn ich haͤtte koͤnnen hinterlaſſen wer-
den. So kurzſichtig iſt die menſchliche Klugheit.
Aber er ward eben das gluͤckliche Mittel, mich
Jhrer Mutter zu empfehlen, welche in Betrach-
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 6. Göttingen, 1750, S. 35. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa06_1750/41>, abgerufen am 23.11.2024.
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