Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 6. Göttingen, 1750.

Bild:
<< vorherige Seite



vorbey, und las die sieben folgenden Absätze, bis
auf den abscheulichen Wunsch, der zu anstößig
war, daß ich ihn ihr hätte vorlesen sollen. Was
ich las, das gab ihr zu folgenden Betrachtungen
Gelegenheit:

"Die Ränke und Kunstgriffe, welche er ver-
"fluchet, und das Frohlocken der gottlosen Weibs-
"leute, da sie mich aufgefunden hatten, zeigen
"mir, daß alle seine Vergehungen vorsetzlich ge-
"schehen sind. Jch zweifle auch nicht, daß seine
"schrecklichen Meineyde und unmenschlichen Kün-
"ste, so wie er in seinen Anschlägen nach und nach
"fortgegangen, für feine List, für ein witziges
"Spiel und für einen Beweis seiner hohen Er-
"findungsgaben, angesehen worden! - - O mein
"grausamer, grausamer Bruder! wäre es nicht
"um deinetwillen geschehen: so würde ich nicht
"an einen so verderblichen, so verächtlichen Rän-
"keschmieder gerathen seyn! - - Aber lesen sie
"weiter, mein Herr, ich bitte, lesen sie weiter.

Bey der Stelle: Kannst du, unglückli-
cher Wahrsager, mir auch sagen, wo sich
meine Strafe endigen werde?
- - seufzete
sie. Und als ich an den Ausdruck kam, Viel-
leicht betete sie für meine Besserung,
fragte
sie: Steht das wirklich da? und seufzete wieder
- - Der elende Mensch! - - Sie vergoß auch
eine Thräne für dich - - Bey meiner Treue, Lo-
velace, ich glaube, sie hasset dich nicht! - - Sie
sorget wenigstens, sie sorget auf eine edelmüthige

Art,



vorbey, und las die ſieben folgenden Abſaͤtze, bis
auf den abſcheulichen Wunſch, der zu anſtoͤßig
war, daß ich ihn ihr haͤtte vorleſen ſollen. Was
ich las, das gab ihr zu folgenden Betrachtungen
Gelegenheit:

„Die Raͤnke und Kunſtgriffe, welche er ver-
„fluchet, und das Frohlocken der gottloſen Weibs-
„leute, da ſie mich aufgefunden hatten, zeigen
„mir, daß alle ſeine Vergehungen vorſetzlich ge-
„ſchehen ſind. Jch zweifle auch nicht, daß ſeine
„ſchrecklichen Meineyde und unmenſchlichen Kuͤn-
„ſte, ſo wie er in ſeinen Anſchlaͤgen nach und nach
„fortgegangen, fuͤr feine Liſt, fuͤr ein witziges
„Spiel und fuͤr einen Beweis ſeiner hohen Er-
„findungsgaben, angeſehen worden! ‒ ‒ O mein
„grauſamer, grauſamer Bruder! waͤre es nicht
„um deinetwillen geſchehen: ſo wuͤrde ich nicht
„an einen ſo verderblichen, ſo veraͤchtlichen Raͤn-
„keſchmieder gerathen ſeyn! ‒ ‒ Aber leſen ſie
„weiter, mein Herr, ich bitte, leſen ſie weiter.

Bey der Stelle: Kannſt du, ungluͤckli-
cher Wahrſager, mir auch ſagen, wo ſich
meine Strafe endigen werde?
‒ ‒ ſeufzete
ſie. Und als ich an den Ausdruck kam, Viel-
leicht betete ſie fuͤr meine Beſſerung,
fragte
ſie: Steht das wirklich da? und ſeufzete wieder
‒ ‒ Der elende Menſch! ‒ ‒ Sie vergoß auch
eine Thraͤne fuͤr dich ‒ ‒ Bey meiner Treue, Lo-
velace, ich glaube, ſie haſſet dich nicht! ‒ ‒ Sie
ſorget wenigſtens, ſie ſorget auf eine edelmuͤthige

Art,
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0362" n="356"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
vorbey, und las die &#x017F;ieben folgenden Ab&#x017F;a&#x0364;tze, bis<lb/>
auf den ab&#x017F;cheulichen Wun&#x017F;ch, der zu an&#x017F;to&#x0364;ßig<lb/>
war, daß ich ihn ihr ha&#x0364;tte vorle&#x017F;en &#x017F;ollen. Was<lb/>
ich las, das gab ihr zu folgenden Betrachtungen<lb/>
Gelegenheit:</p><lb/>
          <p>&#x201E;Die Ra&#x0364;nke und Kun&#x017F;tgriffe, welche er ver-<lb/>
&#x201E;fluchet, und das Frohlocken der gottlo&#x017F;en Weibs-<lb/>
&#x201E;leute, da &#x017F;ie mich aufgefunden hatten, zeigen<lb/>
&#x201E;mir, daß alle &#x017F;eine Vergehungen vor&#x017F;etzlich ge-<lb/>
&#x201E;&#x017F;chehen &#x017F;ind. Jch zweifle auch nicht, daß &#x017F;eine<lb/>
&#x201E;&#x017F;chrecklichen Meineyde und unmen&#x017F;chlichen Ku&#x0364;n-<lb/>
&#x201E;&#x017F;te, &#x017F;o wie er in &#x017F;einen An&#x017F;chla&#x0364;gen nach und nach<lb/>
&#x201E;fortgegangen, fu&#x0364;r feine Li&#x017F;t, fu&#x0364;r ein witziges<lb/>
&#x201E;Spiel und fu&#x0364;r einen Beweis &#x017F;einer hohen Er-<lb/>
&#x201E;findungsgaben, ange&#x017F;ehen worden! &#x2012; &#x2012; O mein<lb/>
&#x201E;grau&#x017F;amer, grau&#x017F;amer Bruder! wa&#x0364;re es nicht<lb/>
&#x201E;um deinetwillen ge&#x017F;chehen: &#x017F;o wu&#x0364;rde ich nicht<lb/>
&#x201E;an einen &#x017F;o verderblichen, &#x017F;o vera&#x0364;chtlichen Ra&#x0364;n-<lb/>
&#x201E;ke&#x017F;chmieder gerathen &#x017F;eyn! &#x2012; &#x2012; Aber le&#x017F;en &#x017F;ie<lb/>
&#x201E;weiter, mein Herr, ich bitte, le&#x017F;en &#x017F;ie weiter.</p><lb/>
          <p>Bey der Stelle: <hi rendition="#fr">Kann&#x017F;t du, unglu&#x0364;ckli-<lb/>
cher Wahr&#x017F;ager, mir auch &#x017F;agen, wo &#x017F;ich<lb/>
meine Strafe endigen werde?</hi> &#x2012; &#x2012; &#x017F;eufzete<lb/>
&#x017F;ie. Und als ich an den Ausdruck kam, <hi rendition="#fr">Viel-<lb/>
leicht betete &#x017F;ie fu&#x0364;r meine Be&#x017F;&#x017F;erung,</hi> fragte<lb/>
&#x017F;ie: Steht das wirklich da? und &#x017F;eufzete wieder<lb/>
&#x2012; &#x2012; Der elende Men&#x017F;ch! &#x2012; &#x2012; Sie vergoß auch<lb/>
eine Thra&#x0364;ne fu&#x0364;r dich &#x2012; &#x2012; Bey meiner Treue, Lo-<lb/>
velace, ich glaube, &#x017F;ie ha&#x017F;&#x017F;et dich nicht! &#x2012; &#x2012; Sie<lb/>
&#x017F;orget wenig&#x017F;tens, &#x017F;ie &#x017F;orget auf eine edelmu&#x0364;thige<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Art,</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[356/0362] vorbey, und las die ſieben folgenden Abſaͤtze, bis auf den abſcheulichen Wunſch, der zu anſtoͤßig war, daß ich ihn ihr haͤtte vorleſen ſollen. Was ich las, das gab ihr zu folgenden Betrachtungen Gelegenheit: „Die Raͤnke und Kunſtgriffe, welche er ver- „fluchet, und das Frohlocken der gottloſen Weibs- „leute, da ſie mich aufgefunden hatten, zeigen „mir, daß alle ſeine Vergehungen vorſetzlich ge- „ſchehen ſind. Jch zweifle auch nicht, daß ſeine „ſchrecklichen Meineyde und unmenſchlichen Kuͤn- „ſte, ſo wie er in ſeinen Anſchlaͤgen nach und nach „fortgegangen, fuͤr feine Liſt, fuͤr ein witziges „Spiel und fuͤr einen Beweis ſeiner hohen Er- „findungsgaben, angeſehen worden! ‒ ‒ O mein „grauſamer, grauſamer Bruder! waͤre es nicht „um deinetwillen geſchehen: ſo wuͤrde ich nicht „an einen ſo verderblichen, ſo veraͤchtlichen Raͤn- „keſchmieder gerathen ſeyn! ‒ ‒ Aber leſen ſie „weiter, mein Herr, ich bitte, leſen ſie weiter. Bey der Stelle: Kannſt du, ungluͤckli- cher Wahrſager, mir auch ſagen, wo ſich meine Strafe endigen werde? ‒ ‒ ſeufzete ſie. Und als ich an den Ausdruck kam, Viel- leicht betete ſie fuͤr meine Beſſerung, fragte ſie: Steht das wirklich da? und ſeufzete wieder ‒ ‒ Der elende Menſch! ‒ ‒ Sie vergoß auch eine Thraͤne fuͤr dich ‒ ‒ Bey meiner Treue, Lo- velace, ich glaube, ſie haſſet dich nicht! ‒ ‒ Sie ſorget wenigſtens, ſie ſorget auf eine edelmuͤthige Art,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa06_1750
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa06_1750/362
Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 6. Göttingen, 1750, S. 356. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa06_1750/362>, abgerufen am 23.11.2024.