Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 6. Göttingen, 1750.

Bild:
<< vorherige Seite



bracht hat, ihm nur, wie ein guter Schläger,
den letzten Stoß versetzen: so würde alles mit
ihm vorbey seyn. Jtzt aber muß ich hier ganze
Stunden bey ihm sitzen; der Henker hohle seine
thörichte Liebe zu mir! sie kommt mir zu sehr un-
gelegner Zeit; und muß ihm meine Schelmstü-
cke erzählen. Eine artige Belustigung für einen
kranken Mann! Und gleichwohl betet er, wenn
er das Podagra hat, Abends und Morgens mit
seinem Kapelan. Was muß er sich für Begrif-
fe von der Religion machen, der, nachdem er
seine Gebetsformeln hergeschnaubt oder gemum-
melt hat, mit völliger Beruhigung seufzen oder
ächzen kann, als wenn er mit dem Himmel alles
abgethan hätte, und mit neuer Begierde meine
Histörchen wieder anzuhören im Stande ist? - -
Ja, der mich noch dazu aufmuntert, über sie la-
chet, daß ihm die Seiten beben, und mich einen
losen Schelm mit einem solchen Tone nennet,
welcher genugsam zeiget, daß er sich über seinen
Anverwandten nicht wenig vergnüge.

Der alte Lord ist in seinen Tagen ein Sünder
gewesen, und leidet nun dafür: aber ein heimli-
cher Sünder, der mehr in die Laster hinein ge-
schlichen
als gehuschet; aus Furcht vor seinem
guten Namen; oder vielmehr aus Furcht entde-
cket und offenbar überwiesen zu werden; denn
diese Art Leute, Bruder, haben keine wahre Ach-
tung für einen guten Namen - - Er hat oft be-
zahlet, was er niemals bekommen hatte, und
sich nie zu der Freude über eine Unternehmung

durch



bracht hat, ihm nur, wie ein guter Schlaͤger,
den letzten Stoß verſetzen: ſo wuͤrde alles mit
ihm vorbey ſeyn. Jtzt aber muß ich hier ganze
Stunden bey ihm ſitzen; der Henker hohle ſeine
thoͤrichte Liebe zu mir! ſie kommt mir zu ſehr un-
gelegner Zeit; und muß ihm meine Schelmſtuͤ-
cke erzaͤhlen. Eine artige Beluſtigung fuͤr einen
kranken Mann! Und gleichwohl betet er, wenn
er das Podagra hat, Abends und Morgens mit
ſeinem Kapelan. Was muß er ſich fuͤr Begrif-
fe von der Religion machen, der, nachdem er
ſeine Gebetsformeln hergeſchnaubt oder gemum-
melt hat, mit voͤlliger Beruhigung ſeufzen oder
aͤchzen kann, als wenn er mit dem Himmel alles
abgethan haͤtte, und mit neuer Begierde meine
Hiſtoͤrchen wieder anzuhoͤren im Stande iſt? ‒ ‒
Ja, der mich noch dazu aufmuntert, uͤber ſie la-
chet, daß ihm die Seiten beben, und mich einen
loſen Schelm mit einem ſolchen Tone nennet,
welcher genugſam zeiget, daß er ſich uͤber ſeinen
Anverwandten nicht wenig vergnuͤge.

Der alte Lord iſt in ſeinen Tagen ein Suͤnder
geweſen, und leidet nun dafuͤr: aber ein heimli-
cher Suͤnder, der mehr in die Laſter hinein ge-
ſchlichen
als gehuſchet; aus Furcht vor ſeinem
guten Namen; oder vielmehr aus Furcht entde-
cket und offenbar uͤberwieſen zu werden; denn
dieſe Art Leute, Bruder, haben keine wahre Ach-
tung fuͤr einen guten Namen ‒ ‒ Er hat oft be-
zahlet, was er niemals bekommen hatte, und
ſich nie zu der Freude uͤber eine Unternehmung

durch
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0186" n="180"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
bracht hat, ihm nur, wie ein guter Schla&#x0364;ger,<lb/>
den letzten Stoß ver&#x017F;etzen: &#x017F;o wu&#x0364;rde alles mit<lb/>
ihm vorbey &#x017F;eyn. Jtzt aber muß ich hier ganze<lb/>
Stunden bey ihm &#x017F;itzen; der Henker hohle &#x017F;eine<lb/>
tho&#x0364;richte Liebe zu mir! &#x017F;ie kommt mir zu &#x017F;ehr un-<lb/>
gelegner Zeit; und muß ihm meine Schelm&#x017F;tu&#x0364;-<lb/>
cke erza&#x0364;hlen. Eine artige Belu&#x017F;tigung fu&#x0364;r einen<lb/>
kranken Mann! Und gleichwohl betet er, wenn<lb/>
er das Podagra hat, Abends und Morgens mit<lb/>
&#x017F;einem Kapelan. Was muß <hi rendition="#fr">er</hi> &#x017F;ich fu&#x0364;r Begrif-<lb/>
fe von der Religion machen, der, nachdem er<lb/>
&#x017F;eine Gebetsformeln herge&#x017F;chnaubt oder gemum-<lb/>
melt hat, mit vo&#x0364;lliger Beruhigung &#x017F;eufzen oder<lb/>
a&#x0364;chzen kann, als wenn er mit dem Himmel alles<lb/>
abgethan ha&#x0364;tte, und mit neuer Begierde meine<lb/>
Hi&#x017F;to&#x0364;rchen wieder anzuho&#x0364;ren im Stande i&#x017F;t? &#x2012; &#x2012;<lb/>
Ja, der mich noch dazu aufmuntert, u&#x0364;ber &#x017F;ie la-<lb/>
chet, daß ihm die Seiten beben, und mich einen<lb/>
lo&#x017F;en Schelm mit einem &#x017F;olchen Tone nennet,<lb/>
welcher genug&#x017F;am zeiget, daß er &#x017F;ich u&#x0364;ber &#x017F;einen<lb/>
Anverwandten nicht wenig vergnu&#x0364;ge.</p><lb/>
          <p>Der alte Lord i&#x017F;t in &#x017F;einen Tagen ein Su&#x0364;nder<lb/>
gewe&#x017F;en, und leidet nun dafu&#x0364;r: aber ein heimli-<lb/>
cher Su&#x0364;nder, der mehr in die La&#x017F;ter hinein <hi rendition="#fr">ge-<lb/>
&#x017F;chlichen</hi> als <hi rendition="#fr">gehu&#x017F;chet;</hi> aus Furcht vor &#x017F;einem<lb/>
guten Namen; oder vielmehr aus Furcht entde-<lb/>
cket und offenbar u&#x0364;berwie&#x017F;en zu werden; denn<lb/>
die&#x017F;e Art Leute, Bruder, haben keine wahre Ach-<lb/>
tung fu&#x0364;r einen guten Namen &#x2012; &#x2012; Er hat oft be-<lb/>
zahlet, was er niemals bekommen hatte, und<lb/>
&#x017F;ich nie zu der Freude u&#x0364;ber eine Unternehmung<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">durch</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[180/0186] bracht hat, ihm nur, wie ein guter Schlaͤger, den letzten Stoß verſetzen: ſo wuͤrde alles mit ihm vorbey ſeyn. Jtzt aber muß ich hier ganze Stunden bey ihm ſitzen; der Henker hohle ſeine thoͤrichte Liebe zu mir! ſie kommt mir zu ſehr un- gelegner Zeit; und muß ihm meine Schelmſtuͤ- cke erzaͤhlen. Eine artige Beluſtigung fuͤr einen kranken Mann! Und gleichwohl betet er, wenn er das Podagra hat, Abends und Morgens mit ſeinem Kapelan. Was muß er ſich fuͤr Begrif- fe von der Religion machen, der, nachdem er ſeine Gebetsformeln hergeſchnaubt oder gemum- melt hat, mit voͤlliger Beruhigung ſeufzen oder aͤchzen kann, als wenn er mit dem Himmel alles abgethan haͤtte, und mit neuer Begierde meine Hiſtoͤrchen wieder anzuhoͤren im Stande iſt? ‒ ‒ Ja, der mich noch dazu aufmuntert, uͤber ſie la- chet, daß ihm die Seiten beben, und mich einen loſen Schelm mit einem ſolchen Tone nennet, welcher genugſam zeiget, daß er ſich uͤber ſeinen Anverwandten nicht wenig vergnuͤge. Der alte Lord iſt in ſeinen Tagen ein Suͤnder geweſen, und leidet nun dafuͤr: aber ein heimli- cher Suͤnder, der mehr in die Laſter hinein ge- ſchlichen als gehuſchet; aus Furcht vor ſeinem guten Namen; oder vielmehr aus Furcht entde- cket und offenbar uͤberwieſen zu werden; denn dieſe Art Leute, Bruder, haben keine wahre Ach- tung fuͤr einen guten Namen ‒ ‒ Er hat oft be- zahlet, was er niemals bekommen hatte, und ſich nie zu der Freude uͤber eine Unternehmung durch

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa06_1750
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa06_1750/186
Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 6. Göttingen, 1750, S. 180. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa06_1750/186>, abgerufen am 22.05.2024.