Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 6. Göttingen, 1750.

Bild:
<< vorherige Seite



be zu denken. Denn ich habe mich nachher be-
sonnen, daß vor meinen Augen diese Lady Elisa-
beth; welche oft von ihrem Stuhl aufstand, und
mit solcher Bewegung, als wenn sie vor herzli-
cher Freude nicht still sitzen könnte, an das andere
Ende des Zimmers spatzieren gieng; einmal ein
Papier aus ihrer Schnürbrust hervorzog, hinein-
sahe, und es darauf wieder hinsteckte. Sie mag
es wohl öfterer gethan, und ich es nicht bemerket
haben: denn ich ließ mir gar nicht in den Sinn
kommen, daß solche Betrügerinnen in der Welt
seyn sollten.

Jch konnte mich nicht entbrechen, auf das,
was sie sagte, viele Aufmerksamkeit zu richten.
Jch fand, daß die Thränen schon heraus brechen
wollten. Jch zog mein Schnupftuch aus und
schwieg stille. Mir war seit langer Zeit von kei-
ner Person von Stande und Vorzügen; und da-
für sahe ich sie an; so leutselig begegnet worden:
und ich durfte dem Ton von meiner Stimme
nicht trauen.

Die vermeynte Fräulein Montague stimmte
bey dieser Gelegenheit mit ein. Sie zog ihren
Stuhl ganz nahe an mich, faßte mich bey der an-
dern Hand, und bat mich, ihrem Vetter zu ver-
geben und mir gefallen zu lassen, mich selbst als
eine der vornehmsten Personen einer Familie, die
lange, sehr lange, nach der Ehre einer Verbin-
dung mit mir begierig gewesen wäre, in diese Fa-
milie zu versetzen.

Jch
G 2



be zu denken. Denn ich habe mich nachher be-
ſonnen, daß vor meinen Augen dieſe Lady Eliſa-
beth; welche oft von ihrem Stuhl aufſtand, und
mit ſolcher Bewegung, als wenn ſie vor herzli-
cher Freude nicht ſtill ſitzen koͤnnte, an das andere
Ende des Zimmers ſpatzieren gieng; einmal ein
Papier aus ihrer Schnuͤrbruſt hervorzog, hinein-
ſahe, und es darauf wieder hinſteckte. Sie mag
es wohl oͤfterer gethan, und ich es nicht bemerket
haben: denn ich ließ mir gar nicht in den Sinn
kommen, daß ſolche Betruͤgerinnen in der Welt
ſeyn ſollten.

Jch konnte mich nicht entbrechen, auf das,
was ſie ſagte, viele Aufmerkſamkeit zu richten.
Jch fand, daß die Thraͤnen ſchon heraus brechen
wollten. Jch zog mein Schnupftuch aus und
ſchwieg ſtille. Mir war ſeit langer Zeit von kei-
ner Perſon von Stande und Vorzuͤgen; und da-
fuͤr ſahe ich ſie an; ſo leutſelig begegnet worden:
und ich durfte dem Ton von meiner Stimme
nicht trauen.

Die vermeynte Fraͤulein Montague ſtimmte
bey dieſer Gelegenheit mit ein. Sie zog ihren
Stuhl ganz nahe an mich, faßte mich bey der an-
dern Hand, und bat mich, ihrem Vetter zu ver-
geben und mir gefallen zu laſſen, mich ſelbſt als
eine der vornehmſten Perſonen einer Familie, die
lange, ſehr lange, nach der Ehre einer Verbin-
dung mit mir begierig geweſen waͤre, in dieſe Fa-
milie zu verſetzen.

Jch
G 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0105" n="99"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
be zu denken. Denn ich habe mich nachher be-<lb/>
&#x017F;onnen, daß vor meinen Augen die&#x017F;e Lady Eli&#x017F;a-<lb/>
beth; welche oft von ihrem Stuhl auf&#x017F;tand, und<lb/>
mit &#x017F;olcher Bewegung, als wenn &#x017F;ie vor herzli-<lb/>
cher Freude nicht &#x017F;till &#x017F;itzen ko&#x0364;nnte, an das andere<lb/>
Ende des Zimmers &#x017F;patzieren gieng; einmal ein<lb/>
Papier aus ihrer Schnu&#x0364;rbru&#x017F;t hervorzog, hinein-<lb/>
&#x017F;ahe, und es darauf wieder hin&#x017F;teckte. Sie mag<lb/>
es wohl o&#x0364;fterer gethan, und ich es nicht bemerket<lb/>
haben: denn ich ließ mir gar nicht in den Sinn<lb/>
kommen, daß &#x017F;olche Betru&#x0364;gerinnen in der Welt<lb/>
&#x017F;eyn &#x017F;ollten.</p><lb/>
          <p>Jch konnte mich nicht entbrechen, auf das,<lb/>
was &#x017F;ie &#x017F;agte, viele Aufmerk&#x017F;amkeit zu richten.<lb/>
Jch fand, daß die Thra&#x0364;nen &#x017F;chon heraus brechen<lb/>
wollten. Jch zog mein Schnupftuch aus und<lb/>
&#x017F;chwieg &#x017F;tille. Mir war &#x017F;eit langer Zeit von kei-<lb/>
ner Per&#x017F;on von Stande und Vorzu&#x0364;gen; und da-<lb/>
fu&#x0364;r &#x017F;ahe ich &#x017F;ie an; &#x017F;o leut&#x017F;elig begegnet worden:<lb/>
und ich durfte dem Ton von meiner Stimme<lb/>
nicht trauen.</p><lb/>
          <p>Die vermeynte Fra&#x0364;ulein Montague &#x017F;timmte<lb/>
bey die&#x017F;er Gelegenheit mit ein. Sie zog ihren<lb/>
Stuhl ganz nahe an mich, faßte mich bey der an-<lb/>
dern Hand, und bat mich, ihrem Vetter zu ver-<lb/>
geben und mir gefallen zu la&#x017F;&#x017F;en, mich &#x017F;elb&#x017F;t als<lb/>
eine der vornehm&#x017F;ten Per&#x017F;onen einer Familie, die<lb/>
lange, &#x017F;ehr lange, nach der Ehre einer Verbin-<lb/>
dung mit mir begierig gewe&#x017F;en wa&#x0364;re, in die&#x017F;e Fa-<lb/>
milie zu ver&#x017F;etzen.</p><lb/>
          <fw place="bottom" type="sig">G 2</fw>
          <fw place="bottom" type="catch">Jch</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[99/0105] be zu denken. Denn ich habe mich nachher be- ſonnen, daß vor meinen Augen dieſe Lady Eliſa- beth; welche oft von ihrem Stuhl aufſtand, und mit ſolcher Bewegung, als wenn ſie vor herzli- cher Freude nicht ſtill ſitzen koͤnnte, an das andere Ende des Zimmers ſpatzieren gieng; einmal ein Papier aus ihrer Schnuͤrbruſt hervorzog, hinein- ſahe, und es darauf wieder hinſteckte. Sie mag es wohl oͤfterer gethan, und ich es nicht bemerket haben: denn ich ließ mir gar nicht in den Sinn kommen, daß ſolche Betruͤgerinnen in der Welt ſeyn ſollten. Jch konnte mich nicht entbrechen, auf das, was ſie ſagte, viele Aufmerkſamkeit zu richten. Jch fand, daß die Thraͤnen ſchon heraus brechen wollten. Jch zog mein Schnupftuch aus und ſchwieg ſtille. Mir war ſeit langer Zeit von kei- ner Perſon von Stande und Vorzuͤgen; und da- fuͤr ſahe ich ſie an; ſo leutſelig begegnet worden: und ich durfte dem Ton von meiner Stimme nicht trauen. Die vermeynte Fraͤulein Montague ſtimmte bey dieſer Gelegenheit mit ein. Sie zog ihren Stuhl ganz nahe an mich, faßte mich bey der an- dern Hand, und bat mich, ihrem Vetter zu ver- geben und mir gefallen zu laſſen, mich ſelbſt als eine der vornehmſten Perſonen einer Familie, die lange, ſehr lange, nach der Ehre einer Verbin- dung mit mir begierig geweſen waͤre, in dieſe Fa- milie zu verſetzen. Jch G 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa06_1750
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa06_1750/105
Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 6. Göttingen, 1750, S. 99. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa06_1750/105>, abgerufen am 22.11.2024.