als über ein anderes. Jn mir aber kann sie nichts erleuchten.
Bey Anbruch des Tages, sahe ich durch das Schlüsselloch an der Thüre zu meiner Geliebten Zimmer. Sie hatte sich erkläret, daß sie ihre Kleider in diesem Hause niemals mehr ablegen wollte. Jch sahe sie dort in einem süssen Schlum- mer, welcher hoffentlich ihren zerrütteten Sinnen zur Stärkung gereichen wird. Sie saß in ei- nem Lehnstuhl und hatte ihre Schürze über den Kopf geschlagen. Der Kopf ruhete auf der ei- nen von ihren schönen Händen: die andere hing in einer schläfrigen Leblosigkeit an ihrer Seiten herunter. Von ihren artigen Füßen war nur einer halb zu sehen.
Siehe, dachte ich, was für ein Unterschied zwischen unsern Umständen ist! Sie, die beleidig- te Schöne, kann füsse schlafen: da unterdessen der schelmische Beleidiger kein Auge schließen kann, und die ganze Nacht über vergebens versu- chet hat, seine Grillen zu vertreiben und sich selbst zu fliehen.
Wie ein jedes Laster überhaupt schon in die- sem Leben seine Strafe mit sich führet: so würde mich, wenn mich irgend etwas in die Versuchung bringen könnte, an künftiger Bestrafung zu zweifeln, eben dieß dahin bringen, daß schwerlich eine größere Strafe seyn kann, als diese ist, die ich itzo in der Unruhe meines nagenden Gewis- sens empfinde.
Jch
T t 4
als uͤber ein anderes. Jn mir aber kann ſie nichts erleuchten.
Bey Anbruch des Tages, ſahe ich durch das Schluͤſſelloch an der Thuͤre zu meiner Geliebten Zimmer. Sie hatte ſich erklaͤret, daß ſie ihre Kleider in dieſem Hauſe niemals mehr ablegen wollte. Jch ſahe ſie dort in einem ſuͤſſen Schlum- mer, welcher hoffentlich ihren zerruͤtteten Sinnen zur Staͤrkung gereichen wird. Sie ſaß in ei- nem Lehnſtuhl und hatte ihre Schuͤrze uͤber den Kopf geſchlagen. Der Kopf ruhete auf der ei- nen von ihren ſchoͤnen Haͤnden: die andere hing in einer ſchlaͤfrigen Lebloſigkeit an ihrer Seiten herunter. Von ihren artigen Fuͤßen war nur einer halb zu ſehen.
Siehe, dachte ich, was fuͤr ein Unterſchied zwiſchen unſern Umſtaͤnden iſt! Sie, die beleidig- te Schoͤne, kann fuͤſſe ſchlafen: da unterdeſſen der ſchelmiſche Beleidiger kein Auge ſchließen kann, und die ganze Nacht uͤber vergebens verſu- chet hat, ſeine Grillen zu vertreiben und ſich ſelbſt zu fliehen.
Wie ein jedes Laſter uͤberhaupt ſchon in die- ſem Leben ſeine Strafe mit ſich fuͤhret: ſo wuͤrde mich, wenn mich irgend etwas in die Verſuchung bringen koͤnnte, an kuͤnftiger Beſtrafung zu zweifeln, eben dieß dahin bringen, daß ſchwerlich eine groͤßere Strafe ſeyn kann, als dieſe iſt, die ich itzo in der Unruhe meines nagenden Gewiſ- ſens empfinde.
Jch
T t 4
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0669"n="663"/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/>
als uͤber ein anderes. Jn mir aber kann ſie nichts<lb/>
erleuchten.</p><lb/><p>Bey Anbruch des Tages, ſahe ich durch das<lb/>
Schluͤſſelloch an der Thuͤre zu meiner Geliebten<lb/>
Zimmer. Sie hatte ſich erklaͤret, daß ſie ihre<lb/>
Kleider in dieſem Hauſe niemals mehr ablegen<lb/>
wollte. Jch ſahe ſie dort in einem ſuͤſſen Schlum-<lb/>
mer, welcher hoffentlich ihren zerruͤtteten Sinnen<lb/>
zur Staͤrkung gereichen wird. Sie ſaß in ei-<lb/>
nem Lehnſtuhl und hatte ihre Schuͤrze uͤber den<lb/>
Kopf geſchlagen. Der Kopf ruhete auf der ei-<lb/>
nen von ihren ſchoͤnen Haͤnden: die andere hing<lb/>
in einer ſchlaͤfrigen Lebloſigkeit an ihrer Seiten<lb/>
herunter. Von ihren artigen Fuͤßen war nur<lb/>
einer halb zu ſehen.</p><lb/><p>Siehe, dachte ich, was fuͤr ein Unterſchied<lb/>
zwiſchen unſern Umſtaͤnden iſt! Sie, die beleidig-<lb/>
te Schoͤne, kann fuͤſſe ſchlafen: da unterdeſſen<lb/>
der ſchelmiſche Beleidiger kein Auge ſchließen<lb/>
kann, und die ganze Nacht uͤber vergebens verſu-<lb/>
chet hat, ſeine Grillen zu vertreiben und ſich ſelbſt<lb/>
zu fliehen.</p><lb/><p>Wie ein jedes Laſter uͤberhaupt ſchon in <hirendition="#fr">die-<lb/>ſem</hi> Leben ſeine Strafe mit ſich fuͤhret: ſo wuͤrde<lb/>
mich, wenn mich irgend etwas in die Verſuchung<lb/>
bringen koͤnnte, an <hirendition="#fr">kuͤnftiger</hi> Beſtrafung zu<lb/>
zweifeln, eben dieß dahin bringen, daß ſchwerlich<lb/>
eine groͤßere Strafe ſeyn kann, als dieſe iſt, die<lb/>
ich itzo in der Unruhe meines nagenden Gewiſ-<lb/>ſens empfinde.</p><lb/><fwplace="bottom"type="sig">T t 4</fw><fwplace="bottom"type="catch">Jch</fw><lb/></div></div></body></text></TEI>
[663/0669]
als uͤber ein anderes. Jn mir aber kann ſie nichts
erleuchten.
Bey Anbruch des Tages, ſahe ich durch das
Schluͤſſelloch an der Thuͤre zu meiner Geliebten
Zimmer. Sie hatte ſich erklaͤret, daß ſie ihre
Kleider in dieſem Hauſe niemals mehr ablegen
wollte. Jch ſahe ſie dort in einem ſuͤſſen Schlum-
mer, welcher hoffentlich ihren zerruͤtteten Sinnen
zur Staͤrkung gereichen wird. Sie ſaß in ei-
nem Lehnſtuhl und hatte ihre Schuͤrze uͤber den
Kopf geſchlagen. Der Kopf ruhete auf der ei-
nen von ihren ſchoͤnen Haͤnden: die andere hing
in einer ſchlaͤfrigen Lebloſigkeit an ihrer Seiten
herunter. Von ihren artigen Fuͤßen war nur
einer halb zu ſehen.
Siehe, dachte ich, was fuͤr ein Unterſchied
zwiſchen unſern Umſtaͤnden iſt! Sie, die beleidig-
te Schoͤne, kann fuͤſſe ſchlafen: da unterdeſſen
der ſchelmiſche Beleidiger kein Auge ſchließen
kann, und die ganze Nacht uͤber vergebens verſu-
chet hat, ſeine Grillen zu vertreiben und ſich ſelbſt
zu fliehen.
Wie ein jedes Laſter uͤberhaupt ſchon in die-
ſem Leben ſeine Strafe mit ſich fuͤhret: ſo wuͤrde
mich, wenn mich irgend etwas in die Verſuchung
bringen koͤnnte, an kuͤnftiger Beſtrafung zu
zweifeln, eben dieß dahin bringen, daß ſchwerlich
eine groͤßere Strafe ſeyn kann, als dieſe iſt, die
ich itzo in der Unruhe meines nagenden Gewiſ-
ſens empfinde.
Jch
T t 4
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 5. Göttingen, 1750, S. 663. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa05_1750/669>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.