Jch habe mir wohl in öffentlichen Gesellschaften bey Frauenzimmern von Stande größere Frey- heiten genommen: man hat nur darüber gelacht, und in meiner Gegenwart Halstuch und Kopf- zeug wieder in Ordnung gebracht und die Röcke wieder zu rechte geschüttelt. Niemals hat sich eine Mannsperson in der Welt, unter derglei- chen Umständen; bey einem solchen Vorsatze, als ich hatte; und so gereizet, als ich war, theils durch ihr Geschlecht, theils durch die Triebe einer hefti- gen Leidenschaft; so anständig aufgeführet. Was weiß sie mir nun aber für Dank?
Dieser erbärmliche Kerl, Bruder, war wie- derum einer von der unglücklichen Bande, wozu du selbst gehörest. Seine Gründe dienten nur mich in eben dem Vorsatze zu bestärken, welchen ich nach seiner Absicht um derselben willen aufge- ben sollte. Hätte er mich mir selbst und meiner natürlichen Zärtlichkeit, so gerühret, als ich da- mals war, da die Fräulein wegging, überlassen, und sich niedergesetzt und verdriesliche Gesichter gemacht und nichts gesagt: so wäre es gar leicht möglich gewesen, daß ich den Stuhl gegen ihm über, wovon sie aufgestanden war, genommen und auf eine halbe Stunde mit ihm gemeinschaft- lich geheulet und geschrien hätte. Aber daß der elende Kerl mit mir streiter! Daß er sich an- maßet einen Menschen zu überzeugen, der in seinem Herzen überführt ist, daß er nicht recht thut! - - Er mußte ja nothwendig denken, daß mich dieses reizen würde, zu versuchen, was ich
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Jch habe mir wohl in oͤffentlichen Geſellſchaften bey Frauenzimmern von Stande groͤßere Frey- heiten genommen: man hat nur daruͤber gelacht, und in meiner Gegenwart Halstuch und Kopf- zeug wieder in Ordnung gebracht und die Roͤcke wieder zu rechte geſchuͤttelt. Niemals hat ſich eine Mannsperſon in der Welt, unter derglei- chen Umſtaͤnden; bey einem ſolchen Vorſatze, als ich hatte; und ſo gereizet, als ich war, theils durch ihr Geſchlecht, theils durch die Triebe einer hefti- gen Leidenſchaft; ſo anſtaͤndig aufgefuͤhret. Was weiß ſie mir nun aber fuͤr Dank?
Dieſer erbaͤrmliche Kerl, Bruder, war wie- derum einer von der ungluͤcklichen Bande, wozu du ſelbſt gehoͤreſt. Seine Gruͤnde dienten nur mich in eben dem Vorſatze zu beſtaͤrken, welchen ich nach ſeiner Abſicht um derſelben willen aufge- ben ſollte. Haͤtte er mich mir ſelbſt und meiner natuͤrlichen Zaͤrtlichkeit, ſo geruͤhret, als ich da- mals war, da die Fraͤulein wegging, uͤberlaſſen, und ſich niedergeſetzt und verdriesliche Geſichter gemacht und nichts geſagt: ſo waͤre es gar leicht moͤglich geweſen, daß ich den Stuhl gegen ihm uͤber, wovon ſie aufgeſtanden war, genommen und auf eine halbe Stunde mit ihm gemeinſchaft- lich geheulet und geſchrien haͤtte. Aber daß der elende Kerl mit mir ſtreiter! Daß er ſich an- maßet einen Menſchen zu uͤberzeugen, der in ſeinem Herzen uͤberfuͤhrt iſt, daß er nicht recht thut! ‒ ‒ Er mußte ja nothwendig denken, daß mich dieſes reizen wuͤrde, zu verſuchen, was ich
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Jch habe mir wohl in oͤffentlichen Geſellſchaften
bey Frauenzimmern von Stande groͤßere Frey-
heiten genommen: man hat nur daruͤber gelacht,
und in meiner Gegenwart Halstuch und Kopf-
zeug wieder in Ordnung gebracht und die Roͤcke
wieder zu rechte geſchuͤttelt. Niemals hat ſich
eine Mannsperſon in der Welt, unter derglei-
chen Umſtaͤnden; bey einem ſolchen Vorſatze, als
ich hatte; und ſo gereizet, als ich war, theils durch
ihr Geſchlecht, theils durch die Triebe einer hefti-
gen Leidenſchaft; ſo anſtaͤndig aufgefuͤhret. Was
weiß ſie mir nun aber fuͤr Dank?
Dieſer erbaͤrmliche Kerl, Bruder, war wie-
derum einer von der ungluͤcklichen Bande, wozu
du ſelbſt gehoͤreſt. Seine Gruͤnde dienten nur
mich in eben dem Vorſatze zu beſtaͤrken, welchen
ich nach ſeiner Abſicht um derſelben willen aufge-
ben ſollte. Haͤtte er mich mir ſelbſt und meiner
natuͤrlichen Zaͤrtlichkeit, ſo geruͤhret, als ich da-
mals war, da die Fraͤulein wegging, uͤberlaſſen,
und ſich niedergeſetzt und verdriesliche Geſichter
gemacht und nichts geſagt: ſo waͤre es gar leicht
moͤglich geweſen, daß ich den Stuhl gegen ihm
uͤber, wovon ſie aufgeſtanden war, genommen
und auf eine halbe Stunde mit ihm gemeinſchaft-
lich geheulet und geſchrien haͤtte. Aber daß der
elende Kerl mit mir ſtreiter! Daß er ſich an-
maßet einen Menſchen zu uͤberzeugen, der in
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thut! ‒ ‒ Er mußte ja nothwendig denken, daß
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 5. Göttingen, 1750, S. 445. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa05_1750/451>, abgerufen am 22.11.2024.
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