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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 5. Göttingen, 1750.

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nen; welches bey einem so feinen Verstande, als
sie besitzet, ihr in ihrem Unglücke eine neue herzna-
gende Betrachtung seyn wird. Und doch ist der
Streit zwischen euch sehr ungleich, wie er zwi-
schen der bloßen Unschuld und einer bewaffneten
Bosheit seyn muß. Denn in einem jeden an-
dern Stücke übertreffen ihre Gaben die deinigen
sehr weit. Das gestehst du selbst - - Wie un-
erträglich wird ihr Schicksal seyn: wofern du
nicht endlich durch deine wiederhohlten Gewis-
sensbisse überwunden wirst!

Zuerst, als ich die Erlaubniß hatte, sie zu se-
hen, ehe ich ihr besonderes und rührendes We-
sen bemerkte, ehe ich sie sprechen hörte, vermuthe-
te ich in der That, daß sie eben keinen so außeror-
dentlichen Verstand besäße, womit sie groß thun
dürfte. Denn ich dachte, ich ließe ihr schon voll-
kommen Gerechtigkeit widerfahren, wenn ich ihre
blühende Jugend, die Liebenswürdigkeit ihrer
Person, und die ungezwungne Art sich zu putzen,
worauf sie meiner Meynung nach die Hälfte ih-
rer Zeit und Bemühung verwandt haben müßte,
für lobenswürdig erkennete. Und gleichwohl war
ich schon von dir vorbereitet, daß ich mir von ih-
rer Einsicht und Belesenheit sehr hohe Gedan-
ken machen sollte. Allein ihre Entschließung,
sich mit einem so lustigen Bruder auf so wagli-
che Bedingungen einzulassen, dachte ich, ist ein
sicherer Beweis, daß es ihrem Verstande noch
an derjenigen Reife fehlet, die nur Jahre und
Erfahrung zuwege bringen. Jhr Erkennt-

niß,



nen; welches bey einem ſo feinen Verſtande, als
ſie beſitzet, ihr in ihrem Ungluͤcke eine neue herzna-
gende Betrachtung ſeyn wird. Und doch iſt der
Streit zwiſchen euch ſehr ungleich, wie er zwi-
ſchen der bloßen Unſchuld und einer bewaffneten
Bosheit ſeyn muß. Denn in einem jeden an-
dern Stuͤcke uͤbertreffen ihre Gaben die deinigen
ſehr weit. Das geſtehſt du ſelbſt ‒ ‒ Wie un-
ertraͤglich wird ihr Schickſal ſeyn: wofern du
nicht endlich durch deine wiederhohlten Gewiſ-
ſensbiſſe uͤberwunden wirſt!

Zuerſt, als ich die Erlaubniß hatte, ſie zu ſe-
hen, ehe ich ihr beſonderes und ruͤhrendes We-
ſen bemerkte, ehe ich ſie ſprechen hoͤrte, vermuthe-
te ich in der That, daß ſie eben keinen ſo außeror-
dentlichen Verſtand beſaͤße, womit ſie groß thun
duͤrfte. Denn ich dachte, ich ließe ihr ſchon voll-
kommen Gerechtigkeit widerfahren, wenn ich ihre
bluͤhende Jugend, die Liebenswuͤrdigkeit ihrer
Perſon, und die ungezwungne Art ſich zu putzen,
worauf ſie meiner Meynung nach die Haͤlfte ih-
rer Zeit und Bemuͤhung verwandt haben muͤßte,
fuͤr lobenswuͤrdig erkennete. Und gleichwohl war
ich ſchon von dir vorbereitet, daß ich mir von ih-
rer Einſicht und Beleſenheit ſehr hohe Gedan-
ken machen ſollte. Allein ihre Entſchließung,
ſich mit einem ſo luſtigen Bruder auf ſo wagli-
che Bedingungen einzulaſſen, dachte ich, iſt ein
ſicherer Beweis, daß es ihrem Verſtande noch
an derjenigen Reife fehlet, die nur Jahre und
Erfahrung zuwege bringen. Jhr Erkennt-

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[30/0036] nen; welches bey einem ſo feinen Verſtande, als ſie beſitzet, ihr in ihrem Ungluͤcke eine neue herzna- gende Betrachtung ſeyn wird. Und doch iſt der Streit zwiſchen euch ſehr ungleich, wie er zwi- ſchen der bloßen Unſchuld und einer bewaffneten Bosheit ſeyn muß. Denn in einem jeden an- dern Stuͤcke uͤbertreffen ihre Gaben die deinigen ſehr weit. Das geſtehſt du ſelbſt ‒ ‒ Wie un- ertraͤglich wird ihr Schickſal ſeyn: wofern du nicht endlich durch deine wiederhohlten Gewiſ- ſensbiſſe uͤberwunden wirſt! Zuerſt, als ich die Erlaubniß hatte, ſie zu ſe- hen, ehe ich ihr beſonderes und ruͤhrendes We- ſen bemerkte, ehe ich ſie ſprechen hoͤrte, vermuthe- te ich in der That, daß ſie eben keinen ſo außeror- dentlichen Verſtand beſaͤße, womit ſie groß thun duͤrfte. Denn ich dachte, ich ließe ihr ſchon voll- kommen Gerechtigkeit widerfahren, wenn ich ihre bluͤhende Jugend, die Liebenswuͤrdigkeit ihrer Perſon, und die ungezwungne Art ſich zu putzen, worauf ſie meiner Meynung nach die Haͤlfte ih- rer Zeit und Bemuͤhung verwandt haben muͤßte, fuͤr lobenswuͤrdig erkennete. Und gleichwohl war ich ſchon von dir vorbereitet, daß ich mir von ih- rer Einſicht und Beleſenheit ſehr hohe Gedan- ken machen ſollte. Allein ihre Entſchließung, ſich mit einem ſo luſtigen Bruder auf ſo wagli- che Bedingungen einzulaſſen, dachte ich, iſt ein ſicherer Beweis, daß es ihrem Verſtande noch an derjenigen Reife fehlet, die nur Jahre und Erfahrung zuwege bringen. Jhr Erkennt- niß,

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Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 5. Göttingen, 1750, S. 30. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa05_1750/36>, abgerufen am 24.11.2024.