O Herr Lovelace, wir sind nun lange genug beysammen, daß wir einer des andern haben über- drüßig werden können. Unser Gemüth und un- sere Weise sind so verschieden, daß sie Ursache ha- ben, mir eben so abgeneigt zu seyn, als ich ihnen bin. Jch glaube sicherlich, daß ich die Zuneigung zu mir, die sie vorgeben, mit keiner Gegenliebe be- lohnen kann. Mein Hertz, das vorhin munter und aufgeräumt war, ist gantz verstellet und ver- drießlich. Durch den Umgang mit ihnen, habe ich einen sehr schlechten Begriff von allen Men- schen, und insonderheit von ihnen bekommen: und von mir selbst habe ich seit der Zeit so schlechte Ge- dancken, daß ich nie die Augen wieder werde auf- heben können. Alle die Eigenliebe und der Hoch- muth, der aus einem guten Gewissen entstehet, ist ver- lohren: der Hochmuth, der einem Frauenzimmer unentbehrlich ist, wenn es mit einigem Vergnügen dieses Leben zurücklegen soll.
Sie hielt innen: ich schwieg stille, und dachte: bey meiner Seele, das angenehme Kind wird mich doch noch stürtzen.
Sie fuhr fort: was ist übrig, als daß sie mich gäntzlich frey sprechen, und mir zusagen, daß sie mich auf keine Weise hindern wollen, den Schluß meines Schicksaals zu erfüllen?
Sie hielt abermahls inne, und ich schwieg auch stille. Jch überlegte bey mir selbst, ob ich alle mei- ne Anschläge, die ich gegen sie gefasset hatte, fah- ren lassen sollte, und ob ich nicht so viel Zeichen von
ihrer
Q 3
O Herr Lovelace, wir ſind nun lange genug beyſammen, daß wir einer des andern haben uͤber- druͤßig werden koͤnnen. Unſer Gemuͤth und un- ſere Weiſe ſind ſo verſchieden, daß ſie Urſache ha- ben, mir eben ſo abgeneigt zu ſeyn, als ich ihnen bin. Jch glaube ſicherlich, daß ich die Zuneigung zu mir, die ſie vorgeben, mit keiner Gegenliebe be- lohnen kann. Mein Hertz, das vorhin munter und aufgeraͤumt war, iſt gantz verſtellet und ver- drießlich. Durch den Umgang mit ihnen, habe ich einen ſehr ſchlechten Begriff von allen Men- ſchen, und inſonderheit von ihnen bekommen: und von mir ſelbſt habe ich ſeit der Zeit ſo ſchlechte Ge- dancken, daß ich nie die Augen wieder werde auf- heben koͤnnen. Alle die Eigenliebe und der Hoch- muth, der aus einem guten Gewiſſen entſtehet, iſt ver- lohren: der Hochmuth, der einem Frauenzimmer unentbehrlich iſt, wenn es mit einigem Vergnuͤgen dieſes Leben zuruͤcklegen ſoll.
Sie hielt innen: ich ſchwieg ſtille, und dachte: bey meiner Seele, das angenehme Kind wird mich doch noch ſtuͤrtzen.
Sie fuhr fort: was iſt uͤbrig, als daß ſie mich gaͤntzlich frey ſprechen, und mir zuſagen, daß ſie mich auf keine Weiſe hindern wollen, den Schluß meines Schickſaals zu erfuͤllen?
Sie hielt abermahls inne, und ich ſchwieg auch ſtille. Jch uͤberlegte bey mir ſelbſt, ob ich alle mei- ne Anſchlaͤge, die ich gegen ſie gefaſſet hatte, fah- ren laſſen ſollte, und ob ich nicht ſo viel Zeichen von
ihrer
Q 3
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O Herr Lovelace, wir ſind nun lange genug
beyſammen, daß wir einer des andern haben uͤber-
druͤßig werden koͤnnen. Unſer Gemuͤth und un-
ſere Weiſe ſind ſo verſchieden, daß ſie Urſache ha-
ben, mir eben ſo abgeneigt zu ſeyn, als ich ihnen
bin. Jch glaube ſicherlich, daß ich die Zuneigung
zu mir, die ſie vorgeben, mit keiner Gegenliebe be-
lohnen kann. Mein Hertz, das vorhin munter
und aufgeraͤumt war, iſt gantz verſtellet und ver-
drießlich. Durch den Umgang mit ihnen, habe
ich einen ſehr ſchlechten Begriff von allen Men-
ſchen, und inſonderheit von ihnen bekommen: und
von mir ſelbſt habe ich ſeit der Zeit ſo ſchlechte Ge-
dancken, daß ich nie die Augen wieder werde auf-
heben koͤnnen. Alle die Eigenliebe und der Hoch-
muth, der aus einem guten Gewiſſen entſtehet, iſt ver-
lohren: der Hochmuth, der einem Frauenzimmer
unentbehrlich iſt, wenn es mit einigem Vergnuͤgen
dieſes Leben zuruͤcklegen ſoll.
Sie hielt innen: ich ſchwieg ſtille, und dachte:
bey meiner Seele, das angenehme Kind wird mich
doch noch ſtuͤrtzen.
Sie fuhr fort: was iſt uͤbrig, als daß ſie mich
gaͤntzlich frey ſprechen, und mir zuſagen, daß ſie
mich auf keine Weiſe hindern wollen, den Schluß
meines Schickſaals zu erfuͤllen?
Sie hielt abermahls inne, und ich ſchwieg auch
ſtille. Jch uͤberlegte bey mir ſelbſt, ob ich alle mei-
ne Anſchlaͤge, die ich gegen ſie gefaſſet hatte, fah-
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 4. Göttingen, 1749, S. 245. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa04_1749/251>, abgerufen am 25.11.2024.
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