hat, in dem Speise-Saal auf und nieder; denn meine Erwartung machte, daß ich über meine Knochen und Gelencke nicht mehr zu befehlen hatte.
Sie trat mit einer erhabenen Mine herein, ihr Gesichte war abgekehrt, ihre geschwollnen Brü- ste traten desto mehr hervor, weil sie sich so erha- ben trug. Jst es nicht unrecht, Bruder, daß selbst der Eigensinn diese stoltze Schöne noch schöner macht? Allein die wahre Schönheit bleibt in allen Stellungen und bey allen Gemüths-Beschaffen- heiten schön. Aus dem abgekehrten Gesichte und der verächtlichen Geberde merckte ich, daß das liebe unartige Kind Lust hatte zu zürnen: deswegen nahm ich auch eine solche Mine an, da ich ihre Hand mit Zittern ergriff, daß die Furcht bald in ihrem Gemüthe siegete. Jndessen ward auch mein Hertz sogleich entwaffnet, und mit Ehrfurcht nie- dergeschlagen, als ich sie sahe. Sie ist gewiß ein Engel. Und dennoch glaube ich, daß die Jhrigen sie für ein Mädchen angesehen haben müssen, sonst würden sie sie nicht von Kindheit an so gekleidet haben, und sie würde auch die weibliche Kleidung aus Triebe des Gewissens abgeleget haben, wenn sie überzeuget wäre, daß sie ihr nicht gebührete.
Darf ich sie bitten, Fräulein, (fing ich an) mir zu sagen, wodurch ich eine solche Aufführung von ihrer Seite verdienet habe?
Und darf ich sie bitten, Herr Lovelace, mir zu sagen, wodurch ich verdient habe, daß sie mich stören, wenn ich allein seyn will? Was kann seit
gestern
hat, in dem Speiſe-Saal auf und nieder; denn meine Erwartung machte, daß ich uͤber meine Knochen und Gelencke nicht mehr zu befehlen hatte.
Sie trat mit einer erhabenen Mine herein, ihr Geſichte war abgekehrt, ihre geſchwollnen Bruͤ- ſte traten deſto mehr hervor, weil ſie ſich ſo erha- ben trug. Jſt es nicht unrecht, Bruder, daß ſelbſt der Eigenſinn dieſe ſtoltze Schoͤne noch ſchoͤner macht? Allein die wahre Schoͤnheit bleibt in allen Stellungen und bey allen Gemuͤths-Beſchaffen- heiten ſchoͤn. Aus dem abgekehrten Geſichte und der veraͤchtlichen Geberde merckte ich, daß das liebe unartige Kind Luſt hatte zu zuͤrnen: deswegen nahm ich auch eine ſolche Mine an, da ich ihre Hand mit Zittern ergriff, daß die Furcht bald in ihrem Gemuͤthe ſiegete. Jndeſſen ward auch mein Hertz ſogleich entwaffnet, und mit Ehrfurcht nie- dergeſchlagen, als ich ſie ſahe. Sie iſt gewiß ein Engel. Und dennoch glaube ich, daß die Jhrigen ſie fuͤr ein Maͤdchen angeſehen haben muͤſſen, ſonſt wuͤrden ſie ſie nicht von Kindheit an ſo gekleidet haben, und ſie wuͤrde auch die weibliche Kleidung aus Triebe des Gewiſſens abgeleget haben, wenn ſie uͤberzeuget waͤre, daß ſie ihr nicht gebuͤhrete.
Darf ich ſie bitten, Fraͤulein, (fing ich an) mir zu ſagen, wodurch ich eine ſolche Auffuͤhrung von ihrer Seite verdienet habe?
Und darf ich ſie bitten, Herr Lovelace, mir zu ſagen, wodurch ich verdient habe, daß ſie mich ſtoͤren, wenn ich allein ſeyn will? Was kann ſeit
geſtern
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0225"n="219"/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/>
hat, in dem Speiſe-Saal auf und nieder; denn<lb/>
meine Erwartung machte, daß ich uͤber meine<lb/>
Knochen und Gelencke nicht mehr zu befehlen<lb/>
hatte.</p><lb/><p>Sie trat mit einer erhabenen Mine herein,<lb/>
ihr Geſichte war abgekehrt, ihre geſchwollnen Bruͤ-<lb/>ſte traten deſto mehr hervor, weil ſie ſich ſo erha-<lb/>
ben trug. Jſt es nicht unrecht, Bruder, daß ſelbſt<lb/>
der Eigenſinn dieſe ſtoltze Schoͤne noch ſchoͤner<lb/>
macht? Allein die wahre Schoͤnheit bleibt in allen<lb/>
Stellungen und bey allen Gemuͤths-Beſchaffen-<lb/>
heiten ſchoͤn. Aus dem abgekehrten Geſichte und<lb/>
der veraͤchtlichen Geberde merckte ich, daß das liebe<lb/>
unartige Kind Luſt hatte zu zuͤrnen: deswegen<lb/>
nahm ich auch eine ſolche Mine an, da ich ihre<lb/>
Hand mit Zittern ergriff, daß die Furcht bald in<lb/>
ihrem Gemuͤthe ſiegete. Jndeſſen ward auch mein<lb/>
Hertz ſogleich entwaffnet, und mit Ehrfurcht nie-<lb/>
dergeſchlagen, als ich ſie ſahe. Sie iſt gewiß ein<lb/>
Engel. Und dennoch glaube ich, daß die Jhrigen<lb/>ſie fuͤr ein Maͤdchen angeſehen haben muͤſſen, ſonſt<lb/>
wuͤrden ſie ſie nicht von Kindheit an ſo gekleidet<lb/>
haben, und ſie wuͤrde auch die weibliche Kleidung<lb/>
aus Triebe des Gewiſſens abgeleget haben, wenn ſie<lb/>
uͤberzeuget waͤre, daß ſie ihr nicht gebuͤhrete.</p><lb/><p>Darf ich ſie bitten, Fraͤulein, (fing ich an)<lb/>
mir zu ſagen, wodurch ich eine ſolche Auffuͤhrung<lb/>
von ihrer Seite verdienet habe?</p><lb/><p>Und darf ich ſie bitten, Herr <hirendition="#fr">Lovelace,</hi> mir<lb/>
zu ſagen, wodurch ich verdient habe, daß ſie mich<lb/>ſtoͤren, wenn ich allein ſeyn will? Was kann ſeit<lb/><fwplace="bottom"type="catch">geſtern</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[219/0225]
hat, in dem Speiſe-Saal auf und nieder; denn
meine Erwartung machte, daß ich uͤber meine
Knochen und Gelencke nicht mehr zu befehlen
hatte.
Sie trat mit einer erhabenen Mine herein,
ihr Geſichte war abgekehrt, ihre geſchwollnen Bruͤ-
ſte traten deſto mehr hervor, weil ſie ſich ſo erha-
ben trug. Jſt es nicht unrecht, Bruder, daß ſelbſt
der Eigenſinn dieſe ſtoltze Schoͤne noch ſchoͤner
macht? Allein die wahre Schoͤnheit bleibt in allen
Stellungen und bey allen Gemuͤths-Beſchaffen-
heiten ſchoͤn. Aus dem abgekehrten Geſichte und
der veraͤchtlichen Geberde merckte ich, daß das liebe
unartige Kind Luſt hatte zu zuͤrnen: deswegen
nahm ich auch eine ſolche Mine an, da ich ihre
Hand mit Zittern ergriff, daß die Furcht bald in
ihrem Gemuͤthe ſiegete. Jndeſſen ward auch mein
Hertz ſogleich entwaffnet, und mit Ehrfurcht nie-
dergeſchlagen, als ich ſie ſahe. Sie iſt gewiß ein
Engel. Und dennoch glaube ich, daß die Jhrigen
ſie fuͤr ein Maͤdchen angeſehen haben muͤſſen, ſonſt
wuͤrden ſie ſie nicht von Kindheit an ſo gekleidet
haben, und ſie wuͤrde auch die weibliche Kleidung
aus Triebe des Gewiſſens abgeleget haben, wenn ſie
uͤberzeuget waͤre, daß ſie ihr nicht gebuͤhrete.
Darf ich ſie bitten, Fraͤulein, (fing ich an)
mir zu ſagen, wodurch ich eine ſolche Auffuͤhrung
von ihrer Seite verdienet habe?
Und darf ich ſie bitten, Herr Lovelace, mir
zu ſagen, wodurch ich verdient habe, daß ſie mich
ſtoͤren, wenn ich allein ſeyn will? Was kann ſeit
geſtern
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 4. Göttingen, 1749, S. 219. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa04_1749/225>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.