Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 4. Göttingen, 1749.

Bild:
<< vorherige Seite


Das soll mein Trost seyn.

Kein Mensch auf
Erden kann sein Creutz besser tragen als ich; allein
es muß ein Creutz seyn, das ich mir selbst gemacht
habe; und eben dieses rechne ich unter meine Vorzü-
ge und Tugenden, du magst davon dencken, was
du willst. Denn die meisten sind durch ihre uner-
meßlichen Begierden, oder dadurch, daß sie kein
besseres Glück verdienen, an ihrem Leyden schuld.
Jch will nach und nach ein Mensch, wie andere Leute
werden, dafür mich noch niemand gehalten hat. Nun
mercke auf die Geschichte zu der ich diese Vorrede
gemacht habe.

Jch war ausser Hause gewesen, und traff bey mei-
ner Zurückkunft die Dorcas auf der Treppe an. - -
Jst eure Herrschaft auf ihrer Stube? - - Nein! sie
ist in dem Speise-Saal: und wenn sie jemahls eine
Gelegenheit haben sollen einen Brief zu erhaschen,
so müssen sie sie jetzt ergreiffen. Denn vor ihren
Füssen sahe ich einen Brief liegen, den sie eben ge-
lesen haben mußte, weil er er aus einander geschlagen
war, und sie beschäftiget sich noch jetzt mit andern
Briefen. Jch glaube sie hat alles aus der Tasche
gezogen; und also wissen sie, wo sie sie künftig su-
chen müssen.

Jch wollte vor Freuden fast in die Luft springen,
und entschloß mich gleich, einen Einfall anzuwenden,
den ich schonlängstens gehabt hatte. Jch ging mit
einem sehr frölichen Gesicht in das Speise-Zim-
mer, und unterstand mich, sie, wie sie saß, mit bey-
den Armen zu umfassen, unterdessen, daß sie ihre
Briefe geschwind in den Schnupftuch band ohne

den


Das ſoll mein Troſt ſeyn.

Kein Menſch auf
Erden kann ſein Creutz beſſer tragen als ich; allein
es muß ein Creutz ſeyn, das ich mir ſelbſt gemacht
habe; und eben dieſes rechne ich unter meine Vorzuͤ-
ge und Tugenden, du magſt davon dencken, was
du willſt. Denn die meiſten ſind durch ihre uner-
meßlichen Begierden, oder dadurch, daß ſie kein
beſſeres Gluͤck verdienen, an ihrem Leyden ſchuld.
Jch will nach und nach ein Menſch, wie andere Leute
werden, dafuͤr mich noch niemand gehalten hat. Nun
mercke auf die Geſchichte zu der ich dieſe Vorrede
gemacht habe.

Jch war auſſer Hauſe geweſen, und traff bey mei-
ner Zuruͤckkunft die Dorcas auf der Treppe an. ‒ ‒
Jſt eure Herrſchaft auf ihrer Stube? ‒ ‒ Nein! ſie
iſt in dem Speiſe-Saal: und wenn ſie jemahls eine
Gelegenheit haben ſollen einen Brief zu erhaſchen,
ſo muͤſſen ſie ſie jetzt ergreiffen. Denn vor ihren
Fuͤſſen ſahe ich einen Brief liegen, den ſie eben ge-
leſen haben mußte, weil er er aus einander geſchlagen
war, und ſie beſchaͤftiget ſich noch jetzt mit andern
Briefen. Jch glaube ſie hat alles aus der Taſche
gezogen; und alſo wiſſen ſie, wo ſie ſie kuͤnftig ſu-
chen muͤſſen.

Jch wollte vor Freuden faſt in die Luft ſpringen,
und entſchloß mich gleich, einen Einfall anzuwenden,
den ich ſchonlaͤngſtens gehabt hatte. Jch ging mit
einem ſehr froͤlichen Geſicht in das Speiſe-Zim-
mer, und unterſtand mich, ſie, wie ſie ſaß, mit bey-
den Armen zu umfaſſen, unterdeſſen, daß ſie ihre
Briefe geſchwind in den Schnupftuch band ohne

den
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0021" n="15"/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <cit>
            <quote>Das &#x017F;oll mein Tro&#x017F;t &#x017F;eyn.</quote>
          </cit>
          <p>Kein Men&#x017F;ch auf<lb/>
Erden kann &#x017F;ein Creutz be&#x017F;&#x017F;er tragen als ich; allein<lb/>
es muß ein Creutz &#x017F;eyn, das ich mir &#x017F;elb&#x017F;t gemacht<lb/>
habe; und eben die&#x017F;es rechne ich unter meine Vorzu&#x0364;-<lb/>
ge und Tugenden, du mag&#x017F;t davon dencken, was<lb/>
du will&#x017F;t. Denn die mei&#x017F;ten &#x017F;ind durch ihre uner-<lb/>
meßlichen Begierden, oder dadurch, daß &#x017F;ie kein<lb/>
be&#x017F;&#x017F;eres Glu&#x0364;ck verdienen, an ihrem Leyden &#x017F;chuld.<lb/>
Jch will nach und nach ein Men&#x017F;ch, wie andere Leute<lb/>
werden, dafu&#x0364;r mich noch niemand gehalten hat. Nun<lb/>
mercke auf die Ge&#x017F;chichte zu der ich die&#x017F;e Vorrede<lb/>
gemacht habe.</p><lb/>
          <p>Jch war au&#x017F;&#x017F;er Hau&#x017F;e gewe&#x017F;en, und traff bey mei-<lb/>
ner Zuru&#x0364;ckkunft die <hi rendition="#fr">Dorcas</hi> auf der Treppe an. &#x2012; &#x2012;<lb/>
J&#x017F;t eure Herr&#x017F;chaft auf ihrer Stube? &#x2012; &#x2012; Nein! &#x017F;ie<lb/>
i&#x017F;t in dem Spei&#x017F;e-Saal: und wenn &#x017F;ie jemahls eine<lb/>
Gelegenheit haben &#x017F;ollen einen Brief zu erha&#x017F;chen,<lb/>
&#x017F;o mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ie &#x017F;ie jetzt ergreiffen. Denn vor ihren<lb/>
Fu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ahe ich einen Brief liegen, den &#x017F;ie eben ge-<lb/>
le&#x017F;en haben mußte, weil er er aus einander ge&#x017F;chlagen<lb/>
war, und &#x017F;ie be&#x017F;cha&#x0364;ftiget &#x017F;ich noch jetzt mit andern<lb/>
Briefen. Jch glaube &#x017F;ie hat alles aus der Ta&#x017F;che<lb/>
gezogen; und al&#x017F;o wi&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ie, wo &#x017F;ie &#x017F;ie ku&#x0364;nftig &#x017F;u-<lb/>
chen mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en.</p><lb/>
          <p>Jch wollte vor Freuden fa&#x017F;t in die Luft &#x017F;pringen,<lb/>
und ent&#x017F;chloß mich gleich, einen Einfall anzuwenden,<lb/>
den ich &#x017F;chonla&#x0364;ng&#x017F;tens gehabt hatte. Jch ging mit<lb/>
einem &#x017F;ehr fro&#x0364;lichen Ge&#x017F;icht in das Spei&#x017F;e-Zim-<lb/>
mer, und unter&#x017F;tand mich, &#x017F;ie, wie &#x017F;ie &#x017F;aß, mit bey-<lb/>
den Armen zu umfa&#x017F;&#x017F;en, unterde&#x017F;&#x017F;en, daß &#x017F;ie ihre<lb/>
Briefe ge&#x017F;chwind in den Schnupftuch band ohne<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">den</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[15/0021] Das ſoll mein Troſt ſeyn. Kein Menſch auf Erden kann ſein Creutz beſſer tragen als ich; allein es muß ein Creutz ſeyn, das ich mir ſelbſt gemacht habe; und eben dieſes rechne ich unter meine Vorzuͤ- ge und Tugenden, du magſt davon dencken, was du willſt. Denn die meiſten ſind durch ihre uner- meßlichen Begierden, oder dadurch, daß ſie kein beſſeres Gluͤck verdienen, an ihrem Leyden ſchuld. Jch will nach und nach ein Menſch, wie andere Leute werden, dafuͤr mich noch niemand gehalten hat. Nun mercke auf die Geſchichte zu der ich dieſe Vorrede gemacht habe. Jch war auſſer Hauſe geweſen, und traff bey mei- ner Zuruͤckkunft die Dorcas auf der Treppe an. ‒ ‒ Jſt eure Herrſchaft auf ihrer Stube? ‒ ‒ Nein! ſie iſt in dem Speiſe-Saal: und wenn ſie jemahls eine Gelegenheit haben ſollen einen Brief zu erhaſchen, ſo muͤſſen ſie ſie jetzt ergreiffen. Denn vor ihren Fuͤſſen ſahe ich einen Brief liegen, den ſie eben ge- leſen haben mußte, weil er er aus einander geſchlagen war, und ſie beſchaͤftiget ſich noch jetzt mit andern Briefen. Jch glaube ſie hat alles aus der Taſche gezogen; und alſo wiſſen ſie, wo ſie ſie kuͤnftig ſu- chen muͤſſen. Jch wollte vor Freuden faſt in die Luft ſpringen, und entſchloß mich gleich, einen Einfall anzuwenden, den ich ſchonlaͤngſtens gehabt hatte. Jch ging mit einem ſehr froͤlichen Geſicht in das Speiſe-Zim- mer, und unterſtand mich, ſie, wie ſie ſaß, mit bey- den Armen zu umfaſſen, unterdeſſen, daß ſie ihre Briefe geſchwind in den Schnupftuch band ohne den

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa04_1749
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa04_1749/21
Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 4. Göttingen, 1749, S. 15. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa04_1749/21>, abgerufen am 21.11.2024.