gebrauchen, die ein Compendium der Weißheit gantzer Völcker und Jahrhunderte sind, und oft mehr kluges in sich enthalten, als das eckelhafte Ge- schwätz unserer meisten Prediger und Sitten-Lehrer. Er mag lachen, wenn er will: Sie und ich, wir wissen es besser, denn, ob Sie gleich unter den Wölfen gewesen sind, so haben Sie doch nicht von den Wölfen heulen lernen.
Er muß ja nicht wissen, daß ich von dieser Sa- che an Sie geschrieben habe. Jch schäme mich fast es zu sagen: allein er ist immer mit mir umgegan- gen, als wenn ich ein Mann von sehr mittelmäßigem Verstande wäre, und er wird den besten Rath ver- achten, wenn er weiß, daß er von mir kommt. Er hat gewiß keine Ursache mich so zu verachten. Er wird keinen Schaden von mir haben, wenn er mich überlebet: ob er mir gleich einmahl in das Ge- sicht gesagt hat, ich möchte mit meinem Gute an- fangen, was ich wollte, die Freyheit wäre ihm lie- ber als das Geld. Jch glaube, er denckt: ich könnte ihn nicht mit meinen Flügeln wärmen ohne ihn mit meinem Schnabel zu hacken: und ich habe ihn doch niemals ohne Noth gehacket. GOtt weiß, er könnte mein Hertz haben, wenn er nur darin gefällig gegen mich wäre, daß er auf sein eigenes Bestes dächte; denn weiter verlange ich nichts von ihm. Seine arme Mutter hat ihn zuerst ver- dorben, und nachher bin ich ihm zu gelinde gewesen. Sie werden dencken: das muß ein artiges danckba- res Gemüthe seyn, das Böses für Gutes vergilt! Allein so ist er immer gewesen.
Diese
H 2
gebrauchen, die ein Compendium der Weißheit gantzer Voͤlcker und Jahrhunderte ſind, und oft mehr kluges in ſich enthalten, als das eckelhafte Ge- ſchwaͤtz unſerer meiſten Prediger und Sitten-Lehrer. Er mag lachen, wenn er will: Sie und ich, wir wiſſen es beſſer, denn, ob Sie gleich unter den Woͤlfen geweſen ſind, ſo haben Sie doch nicht von den Woͤlfen heulen lernen.
Er muß ja nicht wiſſen, daß ich von dieſer Sa- che an Sie geſchrieben habe. Jch ſchaͤme mich faſt es zu ſagen: allein er iſt immer mit mir umgegan- gen, als wenn ich ein Mann von ſehr mittelmaͤßigem Verſtande waͤre, und er wird den beſten Rath ver- achten, wenn er weiß, daß er von mir kommt. Er hat gewiß keine Urſache mich ſo zu verachten. Er wird keinen Schaden von mir haben, wenn er mich uͤberlebet: ob er mir gleich einmahl in das Ge- ſicht geſagt hat, ich moͤchte mit meinem Gute an- fangen, was ich wollte, die Freyheit waͤre ihm lie- ber als das Geld. Jch glaube, er denckt: ich koͤnnte ihn nicht mit meinen Fluͤgeln waͤrmen ohne ihn mit meinem Schnabel zu hacken: und ich habe ihn doch niemals ohne Noth gehacket. GOtt weiß, er koͤnnte mein Hertz haben, wenn er nur darin gefaͤllig gegen mich waͤre, daß er auf ſein eigenes Beſtes daͤchte; denn weiter verlange ich nichts von ihm. Seine arme Mutter hat ihn zuerſt ver- dorben, und nachher bin ich ihm zu gelinde geweſen. Sie werden dencken: das muß ein artiges danckba- res Gemuͤthe ſeyn, das Boͤſes fuͤr Gutes vergilt! Allein ſo iſt er immer geweſen.
Dieſe
H 2
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><floatingText><body><p><pbfacs="#f0121"n="115"/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/>
gebrauchen, die ein <hirendition="#aq">Compendium</hi> der Weißheit<lb/>
gantzer Voͤlcker und Jahrhunderte ſind, und oft<lb/>
mehr kluges in ſich enthalten, als das eckelhafte Ge-<lb/>ſchwaͤtz unſerer meiſten Prediger und Sitten-Lehrer.<lb/>
Er mag lachen, wenn er will: Sie und ich, wir<lb/>
wiſſen es beſſer, denn, <hirendition="#fr">ob Sie gleich unter den<lb/>
Woͤlfen geweſen ſind, ſo haben Sie doch<lb/>
nicht von den Woͤlfen heulen lernen.</hi></p><lb/><p>Er muß ja nicht wiſſen, daß ich von dieſer Sa-<lb/>
che an Sie geſchrieben habe. Jch ſchaͤme mich faſt<lb/>
es zu ſagen: allein er iſt immer mit mir umgegan-<lb/>
gen, als wenn ich ein Mann von ſehr mittelmaͤßigem<lb/>
Verſtande waͤre, und er wird den beſten Rath ver-<lb/>
achten, wenn er weiß, daß er von mir kommt. Er<lb/>
hat gewiß keine Urſache mich ſo zu verachten. Er<lb/>
wird keinen Schaden von mir haben, wenn er<lb/>
mich uͤberlebet: ob er mir gleich einmahl in das Ge-<lb/>ſicht geſagt hat, ich moͤchte mit meinem Gute an-<lb/>
fangen, was ich wollte, die Freyheit waͤre ihm lie-<lb/>
ber als das Geld. Jch glaube, er denckt: <hirendition="#fr">ich<lb/>
koͤnnte ihn nicht mit meinen Fluͤgeln waͤrmen<lb/>
ohne ihn mit meinem Schnabel zu hacken:</hi><lb/>
und ich habe ihn doch niemals ohne Noth gehacket.<lb/>
GOtt weiß, er koͤnnte mein Hertz haben, wenn er<lb/>
nur darin gefaͤllig gegen mich waͤre, daß er auf ſein<lb/>
eigenes Beſtes daͤchte; denn weiter verlange ich nichts<lb/>
von ihm. Seine arme Mutter hat ihn zuerſt ver-<lb/>
dorben, und nachher bin ich ihm zu gelinde geweſen.<lb/>
Sie werden dencken: das muß ein artiges danckba-<lb/>
res Gemuͤthe ſeyn, <hirendition="#fr">das Boͤſes fuͤr Gutes vergilt!</hi><lb/>
Allein ſo iſt er immer geweſen.</p><lb/><fwplace="bottom"type="sig">H 2</fw><fwplace="bottom"type="catch">Dieſe</fw><lb/></body></floatingText></div></div></body></text></TEI>
[115/0121]
gebrauchen, die ein Compendium der Weißheit
gantzer Voͤlcker und Jahrhunderte ſind, und oft
mehr kluges in ſich enthalten, als das eckelhafte Ge-
ſchwaͤtz unſerer meiſten Prediger und Sitten-Lehrer.
Er mag lachen, wenn er will: Sie und ich, wir
wiſſen es beſſer, denn, ob Sie gleich unter den
Woͤlfen geweſen ſind, ſo haben Sie doch
nicht von den Woͤlfen heulen lernen.
Er muß ja nicht wiſſen, daß ich von dieſer Sa-
che an Sie geſchrieben habe. Jch ſchaͤme mich faſt
es zu ſagen: allein er iſt immer mit mir umgegan-
gen, als wenn ich ein Mann von ſehr mittelmaͤßigem
Verſtande waͤre, und er wird den beſten Rath ver-
achten, wenn er weiß, daß er von mir kommt. Er
hat gewiß keine Urſache mich ſo zu verachten. Er
wird keinen Schaden von mir haben, wenn er
mich uͤberlebet: ob er mir gleich einmahl in das Ge-
ſicht geſagt hat, ich moͤchte mit meinem Gute an-
fangen, was ich wollte, die Freyheit waͤre ihm lie-
ber als das Geld. Jch glaube, er denckt: ich
koͤnnte ihn nicht mit meinen Fluͤgeln waͤrmen
ohne ihn mit meinem Schnabel zu hacken:
und ich habe ihn doch niemals ohne Noth gehacket.
GOtt weiß, er koͤnnte mein Hertz haben, wenn er
nur darin gefaͤllig gegen mich waͤre, daß er auf ſein
eigenes Beſtes daͤchte; denn weiter verlange ich nichts
von ihm. Seine arme Mutter hat ihn zuerſt ver-
dorben, und nachher bin ich ihm zu gelinde geweſen.
Sie werden dencken: das muß ein artiges danckba-
res Gemuͤthe ſeyn, das Boͤſes fuͤr Gutes vergilt!
Allein ſo iſt er immer geweſen.
Dieſe
H 2
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 4. Göttingen, 1749, S. 115. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa04_1749/121>, abgerufen am 22.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.