Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 4. Göttingen, 1749.

Bild:
<< vorherige Seite



"Schwüre sich zu rächen) Jch sehe klar, sie hat sich
"gantz von mir los sagen wollen: und ich würde die-
"sem Unglück nicht haben vorbeugen können, wenn ich
"nicht den Baum mit der Wurtzel ausgerissen hätte,
"um an die Früchte zu kommen, die ich nun sanfter
"abzuschütteln hoffe, wenn ich die Zeit erwarten
"kann, da sie reif werden.

Er frohlocket über seine unbelebte Grausam-
keit, in folgenden Worten: "nachdem Sie mir so
"hochmüthig begegnet ist, so will ich sie zwingen,
"selbst auszusprechen, was sie in ihrem Hertzen
"denckt. Jn dem Gesicht, in dem Ton, in
"dem listigen Zaudern eines Frauenzimmers, das
"etwas gerne sagen will und nicht kann, sind tau-
"send Schönheiten anzutreffen. Einige unver-
"ständige Leute, die sich für artig und für grosmü-
"thig halten, machen sich eine Ehre daraus, daß
"sie ein Frauenzimmer nicht in solche Noth setzen.
"Unverständig genug sind sie: sonst würden sie sich
"nicht eines so grossen Vergnügens berauben, und
"zugleich dem Frauenzimmer die Gelegenheit ent-
"ziehen, sich durch eine gantze Welt von neuen
"Schönheiten zu schmücken. Wer eine freye Le-
"bens-Art führen will, dem ist ein hartes und fühl-
"loses Hertz unentbehrlich. Er ist der Noth schon
"gantz gewohnt, die er verursachet, und läßt sich
"selten durch eine Schwäche hinreissen, die sich für
"ihn nicht schicket. Wie oft habe ich einem lie-
"ben Kinde gegen über gesessen, und mich über
"seine Verwirrung gefreuet, wenn es nicht aufhö-
"ren konnte, meine Schuh-Schnallen mit tiefer Ver-

"wun-
G 3



„Schwuͤre ſich zu raͤchen) Jch ſehe klar, ſie hat ſich
„gantz von mir los ſagen wollen: und ich wuͤrde die-
„ſem Ungluͤck nicht haben vorbeugen koͤnnen, wenn ich
„nicht den Baum mit der Wurtzel ausgeriſſen haͤtte,
„um an die Fruͤchte zu kommen, die ich nun ſanfter
„abzuſchuͤtteln hoffe, wenn ich die Zeit erwarten
„kann, da ſie reif werden.

Er frohlocket uͤber ſeine unbelebte Grauſam-
keit, in folgenden Worten: „nachdem Sie mir ſo
„hochmuͤthig begegnet iſt, ſo will ich ſie zwingen,
„ſelbſt auszuſprechen, was ſie in ihrem Hertzen
„denckt. Jn dem Geſicht, in dem Ton, in
„dem liſtigen Zaudern eines Frauenzimmers, das
„etwas gerne ſagen will und nicht kann, ſind tau-
„ſend Schoͤnheiten anzutreffen. Einige unver-
„ſtaͤndige Leute, die ſich fuͤr artig und fuͤr grosmuͤ-
„thig halten, machen ſich eine Ehre daraus, daß
„ſie ein Frauenzimmer nicht in ſolche Noth ſetzen.
„Unverſtaͤndig genug ſind ſie: ſonſt wuͤrden ſie ſich
„nicht eines ſo groſſen Vergnuͤgens berauben, und
„zugleich dem Frauenzimmer die Gelegenheit ent-
„ziehen, ſich durch eine gantze Welt von neuen
„Schoͤnheiten zu ſchmuͤcken. Wer eine freye Le-
„bens-Art fuͤhren will, dem iſt ein hartes und fuͤhl-
„loſes Hertz unentbehrlich. Er iſt der Noth ſchon
„gantz gewohnt, die er verurſachet, und laͤßt ſich
„ſelten durch eine Schwaͤche hinreiſſen, die ſich fuͤr
„ihn nicht ſchicket. Wie oft habe ich einem lie-
„ben Kinde gegen uͤber geſeſſen, und mich uͤber
„ſeine Verwirrung gefreuet, wenn es nicht aufhoͤ-
„ren konnte, meine Schuh-Schnallen mit tiefer Ver-

„wun-
G 3
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div>
          <p><pb facs="#f0107" n="101"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
&#x201E;Schwu&#x0364;re &#x017F;ich zu ra&#x0364;chen) Jch &#x017F;ehe klar, &#x017F;ie hat &#x017F;ich<lb/>
&#x201E;gantz von mir los &#x017F;agen wollen: und ich wu&#x0364;rde die-<lb/>
&#x201E;&#x017F;em Unglu&#x0364;ck nicht haben vorbeugen ko&#x0364;nnen, wenn ich<lb/>
&#x201E;nicht den Baum mit der Wurtzel ausgeri&#x017F;&#x017F;en ha&#x0364;tte,<lb/>
&#x201E;um an die Fru&#x0364;chte zu kommen, die ich nun &#x017F;anfter<lb/>
&#x201E;abzu&#x017F;chu&#x0364;tteln hoffe, wenn ich die Zeit erwarten<lb/>
&#x201E;kann, da &#x017F;ie reif werden.</p><lb/>
          <p>Er frohlocket u&#x0364;ber &#x017F;eine unbelebte Grau&#x017F;am-<lb/>
keit, in folgenden Worten: &#x201E;nachdem Sie mir &#x017F;o<lb/>
&#x201E;hochmu&#x0364;thig begegnet i&#x017F;t, &#x017F;o will ich &#x017F;ie zwingen,<lb/>
&#x201E;&#x017F;elb&#x017F;t auszu&#x017F;prechen, was &#x017F;ie in ihrem Hertzen<lb/>
&#x201E;denckt. Jn dem Ge&#x017F;icht, in dem Ton, in<lb/>
&#x201E;dem li&#x017F;tigen Zaudern eines Frauenzimmers, das<lb/>
&#x201E;etwas gerne &#x017F;agen will und nicht kann, &#x017F;ind tau-<lb/>
&#x201E;&#x017F;end Scho&#x0364;nheiten anzutreffen. Einige unver-<lb/>
&#x201E;&#x017F;ta&#x0364;ndige Leute, die &#x017F;ich fu&#x0364;r artig und fu&#x0364;r grosmu&#x0364;-<lb/>
&#x201E;thig halten, machen &#x017F;ich eine Ehre daraus, daß<lb/>
&#x201E;&#x017F;ie ein Frauenzimmer nicht in &#x017F;olche Noth &#x017F;etzen.<lb/>
&#x201E;Unver&#x017F;ta&#x0364;ndig genug &#x017F;ind &#x017F;ie: &#x017F;on&#x017F;t wu&#x0364;rden &#x017F;ie &#x017F;ich<lb/>
&#x201E;nicht eines &#x017F;o gro&#x017F;&#x017F;en Vergnu&#x0364;gens berauben, und<lb/>
&#x201E;zugleich dem Frauenzimmer die Gelegenheit ent-<lb/>
&#x201E;ziehen, &#x017F;ich durch eine gantze Welt von neuen<lb/>
&#x201E;Scho&#x0364;nheiten zu &#x017F;chmu&#x0364;cken. Wer eine freye Le-<lb/>
&#x201E;bens-Art fu&#x0364;hren will, dem i&#x017F;t ein hartes und fu&#x0364;hl-<lb/>
&#x201E;lo&#x017F;es Hertz unentbehrlich. Er i&#x017F;t der Noth &#x017F;chon<lb/>
&#x201E;gantz gewohnt, die er verur&#x017F;achet, und la&#x0364;ßt &#x017F;ich<lb/>
&#x201E;&#x017F;elten durch eine Schwa&#x0364;che hinrei&#x017F;&#x017F;en, die &#x017F;ich fu&#x0364;r<lb/>
&#x201E;ihn nicht &#x017F;chicket. Wie oft habe ich einem lie-<lb/>
&#x201E;ben Kinde gegen u&#x0364;ber ge&#x017F;e&#x017F;&#x017F;en, und mich u&#x0364;ber<lb/>
&#x201E;&#x017F;eine Verwirrung gefreuet, wenn es nicht aufho&#x0364;-<lb/>
&#x201E;ren konnte, meine Schuh-Schnallen mit tiefer Ver-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">G 3</fw><fw place="bottom" type="catch">&#x201E;wun-</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[101/0107] „Schwuͤre ſich zu raͤchen) Jch ſehe klar, ſie hat ſich „gantz von mir los ſagen wollen: und ich wuͤrde die- „ſem Ungluͤck nicht haben vorbeugen koͤnnen, wenn ich „nicht den Baum mit der Wurtzel ausgeriſſen haͤtte, „um an die Fruͤchte zu kommen, die ich nun ſanfter „abzuſchuͤtteln hoffe, wenn ich die Zeit erwarten „kann, da ſie reif werden. Er frohlocket uͤber ſeine unbelebte Grauſam- keit, in folgenden Worten: „nachdem Sie mir ſo „hochmuͤthig begegnet iſt, ſo will ich ſie zwingen, „ſelbſt auszuſprechen, was ſie in ihrem Hertzen „denckt. Jn dem Geſicht, in dem Ton, in „dem liſtigen Zaudern eines Frauenzimmers, das „etwas gerne ſagen will und nicht kann, ſind tau- „ſend Schoͤnheiten anzutreffen. Einige unver- „ſtaͤndige Leute, die ſich fuͤr artig und fuͤr grosmuͤ- „thig halten, machen ſich eine Ehre daraus, daß „ſie ein Frauenzimmer nicht in ſolche Noth ſetzen. „Unverſtaͤndig genug ſind ſie: ſonſt wuͤrden ſie ſich „nicht eines ſo groſſen Vergnuͤgens berauben, und „zugleich dem Frauenzimmer die Gelegenheit ent- „ziehen, ſich durch eine gantze Welt von neuen „Schoͤnheiten zu ſchmuͤcken. Wer eine freye Le- „bens-Art fuͤhren will, dem iſt ein hartes und fuͤhl- „loſes Hertz unentbehrlich. Er iſt der Noth ſchon „gantz gewohnt, die er verurſachet, und laͤßt ſich „ſelten durch eine Schwaͤche hinreiſſen, die ſich fuͤr „ihn nicht ſchicket. Wie oft habe ich einem lie- „ben Kinde gegen uͤber geſeſſen, und mich uͤber „ſeine Verwirrung gefreuet, wenn es nicht aufhoͤ- „ren konnte, meine Schuh-Schnallen mit tiefer Ver- „wun- G 3

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa04_1749
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa04_1749/107
Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 4. Göttingen, 1749, S. 101. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa04_1749/107>, abgerufen am 02.05.2024.