Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 3. Göttingen, 1749.

Bild:
<< vorherige Seite



ich ihnen aber in meinen jetzigen Umständen eine
bessere Meinung beybringen?

Er sagt: Sie nähmen meine Flucht sehr übel
auf; allein sie schienen nicht so wohl betrübt als
erbittert und rasend zu seyn. Er könnte kaum die
Geduld haben, alle giftige Reden und Drohungen
meines Bruders gegen sich zu dulden. - - Alle
diese Geduld wird mir als ein neues Verdienst um
mich auf die Rechnung geschrieben.

Was für einen Trost habe ich durch diese eintzi-
ge Uebereilung verlohren! zu späte sehe ich, was
es für eine verschiedene Sache ist, der beleydi-
gende
und der beleydigte Theil zu seyn. Wie
viel wollte ich geben, wenn ich dadurch das Glück
erkauffen könnte, daß ich noch jetzt sagen könnte,
ich litte Unrecht, ohne Unrecht zu thun! und daß
andere mir lieblos begegneten, ohne daß ich meine
Pflicht gegen die, denen ich Pflicht und Gehor-
sam schuldig bin, aus den Augen setzte!

Mir eckelt vor mir selbst, daß ich den Verfüh-
rer einer Unterredung gewürdiget habe. Wenn
sich gleich alles glücklich endiget, so habe ich doch
für mein Gewissen einen Schatz des Kummers ge-
sammelt, der sich nicht eher als mit meinem Tode
endigen wird.

Am meisten bekümmert mich dieses; je öfter ich
den Menschen sehe, desto zweifelhafter werde ich,
was ich aus ihm machen soll. Jch belaure alle
seine Gesichts-Züge; allein sie kommen mir je
länger desto unerforschlicher vor. Man kann an
seiner Stirne lesen, daß er Absichten haben muß:

er



ich ihnen aber in meinen jetzigen Umſtaͤnden eine
beſſere Meinung beybringen?

Er ſagt: Sie naͤhmen meine Flucht ſehr uͤbel
auf; allein ſie ſchienen nicht ſo wohl betruͤbt als
erbittert und raſend zu ſeyn. Er koͤnnte kaum die
Geduld haben, alle giftige Reden und Drohungen
meines Bruders gegen ſich zu dulden. ‒ ‒ Alle
dieſe Geduld wird mir als ein neues Verdienſt um
mich auf die Rechnung geſchrieben.

Was fuͤr einen Troſt habe ich durch dieſe eintzi-
ge Uebereilung verlohren! zu ſpaͤte ſehe ich, was
es fuͤr eine verſchiedene Sache iſt, der beleydi-
gende
und der beleydigte Theil zu ſeyn. Wie
viel wollte ich geben, wenn ich dadurch das Gluͤck
erkauffen koͤnnte, daß ich noch jetzt ſagen koͤnnte,
ich litte Unrecht, ohne Unrecht zu thun! und daß
andere mir lieblos begegneten, ohne daß ich meine
Pflicht gegen die, denen ich Pflicht und Gehor-
ſam ſchuldig bin, aus den Augen ſetzte!

Mir eckelt vor mir ſelbſt, daß ich den Verfuͤh-
rer einer Unterredung gewuͤrdiget habe. Wenn
ſich gleich alles gluͤcklich endiget, ſo habe ich doch
fuͤr mein Gewiſſen einen Schatz des Kummers ge-
ſammelt, der ſich nicht eher als mit meinem Tode
endigen wird.

Am meiſten bekuͤmmert mich dieſes; je oͤfter ich
den Menſchen ſehe, deſto zweifelhafter werde ich,
was ich aus ihm machen ſoll. Jch belaure alle
ſeine Geſichts-Zuͤge; allein ſie kommen mir je
laͤnger deſto unerforſchlicher vor. Man kann an
ſeiner Stirne leſen, daß er Abſichten haben muß:

er
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0094" n="80"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
ich ihnen aber in meinen jetzigen Um&#x017F;ta&#x0364;nden eine<lb/>
be&#x017F;&#x017F;ere Meinung beybringen?</p><lb/>
          <p>Er &#x017F;agt: Sie na&#x0364;hmen meine Flucht &#x017F;ehr u&#x0364;bel<lb/>
auf; allein &#x017F;ie &#x017F;chienen nicht &#x017F;o wohl betru&#x0364;bt als<lb/>
erbittert und ra&#x017F;end zu &#x017F;eyn. Er ko&#x0364;nnte kaum die<lb/>
Geduld haben, alle giftige Reden und Drohungen<lb/>
meines Bruders gegen &#x017F;ich zu dulden. &#x2012; &#x2012; Alle<lb/>
die&#x017F;e Geduld wird mir als ein neues Verdien&#x017F;t um<lb/>
mich auf die Rechnung ge&#x017F;chrieben.</p><lb/>
          <p>Was fu&#x0364;r einen Tro&#x017F;t habe ich durch die&#x017F;e eintzi-<lb/>
ge Uebereilung verlohren! zu &#x017F;pa&#x0364;te &#x017F;ehe ich, was<lb/>
es fu&#x0364;r eine ver&#x017F;chiedene Sache i&#x017F;t, <hi rendition="#fr">der beleydi-<lb/>
gende</hi> und <hi rendition="#fr">der beleydigte</hi> Theil zu &#x017F;eyn. Wie<lb/>
viel wollte ich geben, wenn ich dadurch das Glu&#x0364;ck<lb/>
erkauffen ko&#x0364;nnte, daß ich noch jetzt &#x017F;agen ko&#x0364;nnte,<lb/>
ich litte Unrecht, ohne Unrecht zu <hi rendition="#fr">thun!</hi> und daß<lb/>
andere mir lieblos begegneten, ohne daß ich meine<lb/>
Pflicht gegen die, denen ich Pflicht und Gehor-<lb/>
&#x017F;am &#x017F;chuldig bin, aus den Augen &#x017F;etzte!</p><lb/>
          <p>Mir eckelt vor mir &#x017F;elb&#x017F;t, daß ich den Verfu&#x0364;h-<lb/>
rer einer Unterredung gewu&#x0364;rdiget habe. Wenn<lb/>
&#x017F;ich gleich alles glu&#x0364;cklich endiget, &#x017F;o habe ich doch<lb/>
fu&#x0364;r mein Gewi&#x017F;&#x017F;en einen Schatz des Kummers ge-<lb/>
&#x017F;ammelt, der &#x017F;ich nicht eher als mit meinem Tode<lb/>
endigen wird.</p><lb/>
          <p>Am mei&#x017F;ten beku&#x0364;mmert mich die&#x017F;es; je o&#x0364;fter ich<lb/>
den Men&#x017F;chen &#x017F;ehe, de&#x017F;to zweifelhafter werde ich,<lb/>
was ich aus ihm machen &#x017F;oll. Jch belaure alle<lb/>
&#x017F;eine Ge&#x017F;ichts-Zu&#x0364;ge; allein &#x017F;ie kommen mir je<lb/>
la&#x0364;nger de&#x017F;to unerfor&#x017F;chlicher vor. Man kann an<lb/>
&#x017F;einer Stirne le&#x017F;en, daß er Ab&#x017F;ichten haben muß:<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">er</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[80/0094] ich ihnen aber in meinen jetzigen Umſtaͤnden eine beſſere Meinung beybringen? Er ſagt: Sie naͤhmen meine Flucht ſehr uͤbel auf; allein ſie ſchienen nicht ſo wohl betruͤbt als erbittert und raſend zu ſeyn. Er koͤnnte kaum die Geduld haben, alle giftige Reden und Drohungen meines Bruders gegen ſich zu dulden. ‒ ‒ Alle dieſe Geduld wird mir als ein neues Verdienſt um mich auf die Rechnung geſchrieben. Was fuͤr einen Troſt habe ich durch dieſe eintzi- ge Uebereilung verlohren! zu ſpaͤte ſehe ich, was es fuͤr eine verſchiedene Sache iſt, der beleydi- gende und der beleydigte Theil zu ſeyn. Wie viel wollte ich geben, wenn ich dadurch das Gluͤck erkauffen koͤnnte, daß ich noch jetzt ſagen koͤnnte, ich litte Unrecht, ohne Unrecht zu thun! und daß andere mir lieblos begegneten, ohne daß ich meine Pflicht gegen die, denen ich Pflicht und Gehor- ſam ſchuldig bin, aus den Augen ſetzte! Mir eckelt vor mir ſelbſt, daß ich den Verfuͤh- rer einer Unterredung gewuͤrdiget habe. Wenn ſich gleich alles gluͤcklich endiget, ſo habe ich doch fuͤr mein Gewiſſen einen Schatz des Kummers ge- ſammelt, der ſich nicht eher als mit meinem Tode endigen wird. Am meiſten bekuͤmmert mich dieſes; je oͤfter ich den Menſchen ſehe, deſto zweifelhafter werde ich, was ich aus ihm machen ſoll. Jch belaure alle ſeine Geſichts-Zuͤge; allein ſie kommen mir je laͤnger deſto unerforſchlicher vor. Man kann an ſeiner Stirne leſen, daß er Abſichten haben muß: er

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa03_1749
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa03_1749/94
Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 3. Göttingen, 1749, S. 80. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa03_1749/94>, abgerufen am 01.05.2024.