für mich zu seyn. Denn ich konnte mich ohn- möglich länger halten, als ich alles überlegte, was vorgegangen war: und so bald sie weggegangen war, schloß ich die Thür zu, und warf mich auf einen alten Gros-Vaters-Stuhl nieder. Hier ließ ich den Thränen den Lauff, und weinete mir das Hertz leichter.
Herr Lovelace schickte die Wirthin früher als ich es wünschte zu mir herauf; die mich in seinem Nahmen bat, daß ich meinem Bruder erlauben möchte zu mir herauf zu kommen, oder daß ich zu ihm hinunter kommen möchte. Denn er hatte der Wirthin gesagt: ich sey seine Schwester, und hät- te mich diesen Winter bey einem Verwandten auf- gehalten. Weil ich nun eine Heyrath wider der Meinigen Willen hätte vornehmen wollen, so hohle er mich ungewarnter Sache und wider meinen Willen ab, und bringe mich zu meinen Eltern zu- rück. Jch wäre deswegen ungehalten auf ihn, daß er mir nicht so viel Zeit gelassen hätte, mich zur Reise zu kleiden.
So sehr ich sonst die Wahrheit liebe, so fand ich mich doch gezwungen, dieser Erdichtung den Schein der Wahrheit zu geben: einer Erdichtung, die sich zu meinen Umständen desto besser schickte, weil ich eine Zeitlang weder reden noch die Augen aufschlagen konnte. Diesen Kummer und Still- schweigen konnte die Wirthin leicht für Trotz und Eigensinn halten.
Weil ein Bette in meiner Stube stand, so ent- schloß ich mich lieber hinunter zu gehen, nachdem
er
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fuͤr mich zu ſeyn. Denn ich konnte mich ohn- moͤglich laͤnger halten, als ich alles uͤberlegte, was vorgegangen war: und ſo bald ſie weggegangen war, ſchloß ich die Thuͤr zu, und warf mich auf einen alten Gros-Vaters-Stuhl nieder. Hier ließ ich den Thraͤnen den Lauff, und weinete mir das Hertz leichter.
Herr Lovelace ſchickte die Wirthin fruͤher als ich es wuͤnſchte zu mir herauf; die mich in ſeinem Nahmen bat, daß ich meinem Bruder erlauben moͤchte zu mir herauf zu kommen, oder daß ich zu ihm hinunter kommen moͤchte. Denn er hatte der Wirthin geſagt: ich ſey ſeine Schweſter, und haͤt- te mich dieſen Winter bey einem Verwandten auf- gehalten. Weil ich nun eine Heyrath wider der Meinigen Willen haͤtte vornehmen wollen, ſo hohle er mich ungewarnter Sache und wider meinen Willen ab, und bringe mich zu meinen Eltern zu- ruͤck. Jch waͤre deswegen ungehalten auf ihn, daß er mir nicht ſo viel Zeit gelaſſen haͤtte, mich zur Reiſe zu kleiden.
So ſehr ich ſonſt die Wahrheit liebe, ſo fand ich mich doch gezwungen, dieſer Erdichtung den Schein der Wahrheit zu geben: einer Erdichtung, die ſich zu meinen Umſtaͤnden deſto beſſer ſchickte, weil ich eine Zeitlang weder reden noch die Augen aufſchlagen konnte. Dieſen Kummer und Still- ſchweigen konnte die Wirthin leicht fuͤr Trotz und Eigenſinn halten.
Weil ein Bette in meiner Stube ſtand, ſo ent- ſchloß ich mich lieber hinunter zu gehen, nachdem
er
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fuͤr mich zu ſeyn. Denn ich konnte mich ohn-
moͤglich laͤnger halten, als ich alles uͤberlegte, was
vorgegangen war: und ſo bald ſie weggegangen
war, ſchloß ich die Thuͤr zu, und warf mich auf
einen alten Gros-Vaters-Stuhl nieder. Hier
ließ ich den Thraͤnen den Lauff, und weinete mir
das Hertz leichter.
Herr Lovelace ſchickte die Wirthin fruͤher als
ich es wuͤnſchte zu mir herauf; die mich in ſeinem
Nahmen bat, daß ich meinem Bruder erlauben
moͤchte zu mir herauf zu kommen, oder daß ich zu
ihm hinunter kommen moͤchte. Denn er hatte der
Wirthin geſagt: ich ſey ſeine Schweſter, und haͤt-
te mich dieſen Winter bey einem Verwandten auf-
gehalten. Weil ich nun eine Heyrath wider der
Meinigen Willen haͤtte vornehmen wollen, ſo hohle
er mich ungewarnter Sache und wider meinen
Willen ab, und bringe mich zu meinen Eltern zu-
ruͤck. Jch waͤre deswegen ungehalten auf ihn,
daß er mir nicht ſo viel Zeit gelaſſen haͤtte, mich
zur Reiſe zu kleiden.
So ſehr ich ſonſt die Wahrheit liebe, ſo fand
ich mich doch gezwungen, dieſer Erdichtung den
Schein der Wahrheit zu geben: einer Erdichtung,
die ſich zu meinen Umſtaͤnden deſto beſſer ſchickte,
weil ich eine Zeitlang weder reden noch die Augen
aufſchlagen konnte. Dieſen Kummer und Still-
ſchweigen konnte die Wirthin leicht fuͤr Trotz und
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ſchloß ich mich lieber hinunter zu gehen, nachdem
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 3. Göttingen, 1749, S. 51. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa03_1749/65>, abgerufen am 25.11.2024.
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