Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 3. Göttingen, 1749.

Bild:
<< vorherige Seite



alle unruhigen Tage und schlaflosen Nächte, wür-
den nur aus der Vermuthung entstehen, daß sie
mich beleidiget hätte. So oft ich abwesend wäre,
würde sie eine ewige Abwesenheit besorgen: wie an-
genehm würde ihr ein jeder entzückender Willkom-
men, und wie angenehm würde mir ihre Belohnung
dafür seyn? Solche Veränderungen und Leiden-
schaften machen die Liebe empfindlich: sonst schläft
sie ein. Das glückliche Paar braucht bey den lan-
gen Abenden nicht an zwey entfernten Caminen zu
schlummern, und einander mit dem trägen Kopfe
zu zunicken: sondern einer ist dem andern neu, und
man hat etwas, davon man sich unterreden kann.

Du weißt, wie ich mich in meinem Gedichte an
meine Stella hierüber ausgedrücket habe. Jch
will diese Zeilen so liegen lassen, daß sie ihr in die
Hände kommen, so bald wir in dem Hause der Wit-
wen sind: es wäre denn, daß wir uns entschlössen,
vorher die Kirche zu besuchen. Sie wird daraus
sehen, was ich vor Gedancken von dem Ehestande
habe. Wenn sie nicht in dem höchsten Grad auf
mein Gedichte zürnet, so habe ich den Grund geleget,
auf den ich weiter bauen kann.

Manches Mädchen ist überwunden, an welches
niemand sich gewaget hätte, wenn es zu rechter Zeit
empfindlich geworden wäre, da zuerst etwas vor-
gebracht ward, das Augen oder Ohren beleidigte.
Durch ein böses Buch, durch einen lustigen Vers,
durch ein Bild habe ich manches Mädchen versucht;
wenn es nicht böse, sondern nur roth ward, wenn
es gar lächelte, so habe ich es mit dem alten Mul-

ciber
E e 2



alle unruhigen Tage und ſchlafloſen Naͤchte, wuͤr-
den nur aus der Vermuthung entſtehen, daß ſie
mich beleidiget haͤtte. So oft ich abweſend waͤre,
wuͤrde ſie eine ewige Abweſenheit beſorgen: wie an-
genehm wuͤrde ihr ein jeder entzuͤckender Willkom-
men, und wie angenehm wuͤrde mir ihre Belohnung
dafuͤr ſeyn? Solche Veraͤnderungen und Leiden-
ſchaften machen die Liebe empfindlich: ſonſt ſchlaͤft
ſie ein. Das gluͤckliche Paar braucht bey den lan-
gen Abenden nicht an zwey entfernten Caminen zu
ſchlummern, und einander mit dem traͤgen Kopfe
zu zunicken: ſondern einer iſt dem andern neu, und
man hat etwas, davon man ſich unterreden kann.

Du weißt, wie ich mich in meinem Gedichte an
meine Stella hieruͤber ausgedruͤcket habe. Jch
will dieſe Zeilen ſo liegen laſſen, daß ſie ihr in die
Haͤnde kommen, ſo bald wir in dem Hauſe der Wit-
wen ſind: es waͤre denn, daß wir uns entſchloͤſſen,
vorher die Kirche zu beſuchen. Sie wird daraus
ſehen, was ich vor Gedancken von dem Eheſtande
habe. Wenn ſie nicht in dem hoͤchſten Grad auf
mein Gedichte zuͤrnet, ſo habe ich den Grund geleget,
auf den ich weiter bauen kann.

Manches Maͤdchen iſt uͤberwunden, an welches
niemand ſich gewaget haͤtte, wenn es zu rechter Zeit
empfindlich geworden waͤre, da zuerſt etwas vor-
gebracht ward, das Augen oder Ohren beleidigte.
Durch ein boͤſes Buch, durch einen luſtigen Vers,
durch ein Bild habe ich manches Maͤdchen verſucht;
wenn es nicht boͤſe, ſondern nur roth ward, wenn
es gar laͤchelte, ſo habe ich es mit dem alten Mul-

ciber
E e 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0449" n="435"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
alle unruhigen Tage und &#x017F;chlaflo&#x017F;en Na&#x0364;chte, wu&#x0364;r-<lb/>
den nur aus der Vermuthung ent&#x017F;tehen, daß &#x017F;ie<lb/>
mich beleidiget ha&#x0364;tte. So oft ich abwe&#x017F;end wa&#x0364;re,<lb/>
wu&#x0364;rde &#x017F;ie eine ewige Abwe&#x017F;enheit be&#x017F;orgen: wie an-<lb/>
genehm wu&#x0364;rde ihr ein jeder entzu&#x0364;ckender Willkom-<lb/>
men, und wie angenehm wu&#x0364;rde mir ihre Belohnung<lb/>
dafu&#x0364;r &#x017F;eyn? Solche Vera&#x0364;nderungen und Leiden-<lb/>
&#x017F;chaften machen die Liebe empfindlich: &#x017F;on&#x017F;t &#x017F;chla&#x0364;ft<lb/>
&#x017F;ie ein. Das glu&#x0364;ckliche Paar braucht bey den lan-<lb/>
gen Abenden nicht an zwey entfernten Caminen zu<lb/>
&#x017F;chlummern, und einander mit dem tra&#x0364;gen Kopfe<lb/>
zu zunicken: &#x017F;ondern einer i&#x017F;t dem andern neu, und<lb/>
man hat etwas, davon man &#x017F;ich unterreden kann.</p><lb/>
          <p>Du weißt, wie ich mich in meinem Gedichte an<lb/>
meine <hi rendition="#fr">Stella</hi> hieru&#x0364;ber ausgedru&#x0364;cket habe. Jch<lb/>
will die&#x017F;e Zeilen &#x017F;o liegen la&#x017F;&#x017F;en, daß &#x017F;ie ihr in die<lb/>
Ha&#x0364;nde kommen, &#x017F;o bald wir in dem Hau&#x017F;e der Wit-<lb/>
wen &#x017F;ind: es wa&#x0364;re denn, daß wir uns ent&#x017F;chlo&#x0364;&#x017F;&#x017F;en,<lb/>
vorher die Kirche zu be&#x017F;uchen. Sie wird daraus<lb/>
&#x017F;ehen, was ich vor Gedancken von dem Ehe&#x017F;tande<lb/>
habe. Wenn &#x017F;ie nicht in dem ho&#x0364;ch&#x017F;ten Grad auf<lb/>
mein Gedichte zu&#x0364;rnet, &#x017F;o habe ich den Grund geleget,<lb/>
auf den ich weiter bauen kann.</p><lb/>
          <p>Manches Ma&#x0364;dchen i&#x017F;t u&#x0364;berwunden, an welches<lb/>
niemand &#x017F;ich gewaget ha&#x0364;tte, wenn es zu rechter Zeit<lb/>
empfindlich geworden wa&#x0364;re, da zuer&#x017F;t etwas vor-<lb/>
gebracht ward, das Augen oder Ohren beleidigte.<lb/>
Durch ein bo&#x0364;&#x017F;es Buch, durch einen lu&#x017F;tigen Vers,<lb/>
durch ein Bild habe ich manches Ma&#x0364;dchen ver&#x017F;ucht;<lb/>
wenn es nicht bo&#x0364;&#x017F;e, &#x017F;ondern nur roth ward, wenn<lb/>
es gar la&#x0364;chelte, &#x017F;o habe ich es mit dem alten <hi rendition="#fr">Mul-</hi><lb/>
<fw place="bottom" type="sig">E e 2</fw><fw place="bottom" type="catch"><hi rendition="#fr">ciber</hi></fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[435/0449] alle unruhigen Tage und ſchlafloſen Naͤchte, wuͤr- den nur aus der Vermuthung entſtehen, daß ſie mich beleidiget haͤtte. So oft ich abweſend waͤre, wuͤrde ſie eine ewige Abweſenheit beſorgen: wie an- genehm wuͤrde ihr ein jeder entzuͤckender Willkom- men, und wie angenehm wuͤrde mir ihre Belohnung dafuͤr ſeyn? Solche Veraͤnderungen und Leiden- ſchaften machen die Liebe empfindlich: ſonſt ſchlaͤft ſie ein. Das gluͤckliche Paar braucht bey den lan- gen Abenden nicht an zwey entfernten Caminen zu ſchlummern, und einander mit dem traͤgen Kopfe zu zunicken: ſondern einer iſt dem andern neu, und man hat etwas, davon man ſich unterreden kann. Du weißt, wie ich mich in meinem Gedichte an meine Stella hieruͤber ausgedruͤcket habe. Jch will dieſe Zeilen ſo liegen laſſen, daß ſie ihr in die Haͤnde kommen, ſo bald wir in dem Hauſe der Wit- wen ſind: es waͤre denn, daß wir uns entſchloͤſſen, vorher die Kirche zu beſuchen. Sie wird daraus ſehen, was ich vor Gedancken von dem Eheſtande habe. Wenn ſie nicht in dem hoͤchſten Grad auf mein Gedichte zuͤrnet, ſo habe ich den Grund geleget, auf den ich weiter bauen kann. Manches Maͤdchen iſt uͤberwunden, an welches niemand ſich gewaget haͤtte, wenn es zu rechter Zeit empfindlich geworden waͤre, da zuerſt etwas vor- gebracht ward, das Augen oder Ohren beleidigte. Durch ein boͤſes Buch, durch einen luſtigen Vers, durch ein Bild habe ich manches Maͤdchen verſucht; wenn es nicht boͤſe, ſondern nur roth ward, wenn es gar laͤchelte, ſo habe ich es mit dem alten Mul- ciber E e 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa03_1749
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa03_1749/449
Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 3. Göttingen, 1749, S. 435. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa03_1749/449>, abgerufen am 23.11.2024.