Sie wissen, daß ihre Clarissa stets zu aufrich- tig dazu gewesen ist, ihre Fehler durch anderer Fehler zu bedecken. GOtt vergebe es den Mei- nigen, daß sie mit mir so grausam umgegangen sind! Allein ihre Fehler sind ihre Fehler, und kei- ne Feigenblätter für meine Vergehungen: und ich habe früher angefangen zu sündigen, als sie; denn ich hätte den Brief-Wechsel mit ihm nicht fortse- tzen sollen.
O des boshaften und listigen Menschen! wie unwillig muß ich bisweilen heimlich über ihn wer- den! daß er ein junges unerfahrnes Kind, das sich zu viel zutrauete, von einem Uebel zum andern geführet hat. Denn dieses letzte Uebel ist doch gewiß die Folge jenes frühen Uebels, des verbo- tenen Briefwechsels! des Briefwechsels der mir zum wenigsten von meinem Vater früh untersagt wurde.
Wie viel klüger hätte ich gehandelt, wenn ich von dem Augenblick an, da ihm unser Haus und mir sein Umgang verboten ward, mich ein vor al- lemahl auf das Verbot meines Vaters berufen und ihm gar nicht mehr geantworter hätte! Jch meinte, es würde in meiner Macht stehen, fort- zufahren und abzubrechen, wie ich selbst wollte. Jch bildete mir ein, es geziemete mir mehr als an- dern, die Schiedsrichterin zwischen so unruhigen Köpfen zu seyn. Dieser Hochmuth ist jetzt ge- straft: er hat sich selbst gestraft, wie die meisten Sünden zu thun pflegen.
Jch
Sie wiſſen, daß ihre Clariſſa ſtets zu aufrich- tig dazu geweſen iſt, ihre Fehler durch anderer Fehler zu bedecken. GOtt vergebe es den Mei- nigen, daß ſie mit mir ſo grauſam umgegangen ſind! Allein ihre Fehler ſind ihre Fehler, und kei- ne Feigenblaͤtter fuͤr meine Vergehungen: und ich habe fruͤher angefangen zu ſuͤndigen, als ſie; denn ich haͤtte den Brief-Wechſel mit ihm nicht fortſe- tzen ſollen.
O des boshaften und liſtigen Menſchen! wie unwillig muß ich bisweilen heimlich uͤber ihn wer- den! daß er ein junges unerfahrnes Kind, das ſich zu viel zutrauete, von einem Uebel zum andern gefuͤhret hat. Denn dieſes letzte Uebel iſt doch gewiß die Folge jenes fruͤhen Uebels, des verbo- tenen Briefwechſels! des Briefwechſels der mir zum wenigſten von meinem Vater fruͤh unterſagt wurde.
Wie viel kluͤger haͤtte ich gehandelt, wenn ich von dem Augenblick an, da ihm unſer Haus und mir ſein Umgang verboten ward, mich ein vor al- lemahl auf das Verbot meines Vaters berufen und ihm gar nicht mehr geantworter haͤtte! Jch meinte, es wuͤrde in meiner Macht ſtehen, fort- zufahren und abzubrechen, wie ich ſelbſt wollte. Jch bildete mir ein, es geziemete mir mehr als an- dern, die Schiedsrichterin zwiſchen ſo unruhigen Koͤpfen zu ſeyn. Dieſer Hochmuth iſt jetzt ge- ſtraft: er hat ſich ſelbſt geſtraft, wie die meiſten Suͤnden zu thun pflegen.
Jch
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Sie wiſſen, daß ihre Clariſſa ſtets zu aufrich-
tig dazu geweſen iſt, ihre Fehler durch anderer
Fehler zu bedecken. GOtt vergebe es den Mei-
nigen, daß ſie mit mir ſo grauſam umgegangen
ſind! Allein ihre Fehler ſind ihre Fehler, und kei-
ne Feigenblaͤtter fuͤr meine Vergehungen: und ich
habe fruͤher angefangen zu ſuͤndigen, als ſie; denn
ich haͤtte den Brief-Wechſel mit ihm nicht fortſe-
tzen ſollen.
O des boshaften und liſtigen Menſchen! wie
unwillig muß ich bisweilen heimlich uͤber ihn wer-
den! daß er ein junges unerfahrnes Kind, das ſich
zu viel zutrauete, von einem Uebel zum andern
gefuͤhret hat. Denn dieſes letzte Uebel iſt doch
gewiß die Folge jenes fruͤhen Uebels, des verbo-
tenen Briefwechſels! des Briefwechſels der mir
zum wenigſten von meinem Vater fruͤh unterſagt
wurde.
Wie viel kluͤger haͤtte ich gehandelt, wenn ich
von dem Augenblick an, da ihm unſer Haus und
mir ſein Umgang verboten ward, mich ein vor al-
lemahl auf das Verbot meines Vaters berufen
und ihm gar nicht mehr geantworter haͤtte! Jch
meinte, es wuͤrde in meiner Macht ſtehen, fort-
zufahren und abzubrechen, wie ich ſelbſt wollte.
Jch bildete mir ein, es geziemete mir mehr als an-
dern, die Schiedsrichterin zwiſchen ſo unruhigen
Koͤpfen zu ſeyn. Dieſer Hochmuth iſt jetzt ge-
ſtraft: er hat ſich ſelbſt geſtraft, wie die meiſten
Suͤnden zu thun pflegen.
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 3. Göttingen, 1749, S. 29. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa03_1749/43>, abgerufen am 21.11.2024.
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