dern für ihre Ausdrücke und Urtheile eine liebreiche und höfliche Werthachtung heget? Muß das Frau- enzimmer sich nicht billig bemühen, einer solchen Manns-Person Muth zu machen und gleichsam die Lippen aufzuschließen?
Was für ein Loos habe ich hingegen bekommen? Wir alle haben die Schwachheit, daß wir andere lehren wollen: so viel ist aber doch gewiß, daß ich jetzt weit geschickter bin hievon zu reden oder zu schreiben, als ich ehemahls war. Allein ich will meine Umstände und mich selbst gantz aus einem Briefe verbannen, der meinem ersten Vorsatz nach blos von Jhnen handeln sollte.
Meine liebste, meine allerliebste Freundin, wie fertig sind Sie, zu bestimmen, was andere thun sol- len, und was selbst Jhre Frau Mutter gethan haben sollte! Mich dünckt, ich erinnere mich, daß Sie ehemahls behaupteten, daß zu jeder Art der Geschicklichkeit ein eigener Kopf erfodert würde, und z. E. einer sehr geschickt seyn könnte, die Fehler der Schreib-Art anderer zu entdecken, ohne daß er selbst in der Schreib-Art es anderen zuvor thäte. Wollen Sie mir erlauben, die wahre Ur- sache hievon aufzusuchen, daß wir so leicht die Feh- ler anderer entdecken? Die menschliche Natur ist sich der Mängel denen sie unterworfen ist (d. i. de- nen wir selbst unterworfen sind) bewust, und will deswegen ein Straf-Amt üben: sie wendet aber die Augen bey dem Strafen nicht einwärts, son- dern auswärts. Sie hat mehr Lust sich um den
Nachbar
X 2
dern fuͤr ihre Ausdruͤcke und Urtheile eine liebreiche und hoͤfliche Werthachtung heget? Muß das Frau- enzimmer ſich nicht billig bemuͤhen, einer ſolchen Manns-Perſon Muth zu machen und gleichſam die Lippen aufzuſchließen?
Was fuͤr ein Loos habe ich hingegen bekommen? Wir alle haben die Schwachheit, daß wir andere lehren wollen: ſo viel iſt aber doch gewiß, daß ich jetzt weit geſchickter bin hievon zu reden oder zu ſchreiben, als ich ehemahls war. Allein ich will meine Umſtaͤnde und mich ſelbſt gantz aus einem Briefe verbannen, der meinem erſten Vorſatz nach blos von Jhnen handeln ſollte.
Meine liebſte, meine allerliebſte Freundin, wie fertig ſind Sie, zu beſtimmen, was andere thun ſol- len, und was ſelbſt Jhre Frau Mutter gethan haben ſollte! Mich duͤnckt, ich erinnere mich, daß Sie ehemahls behaupteten, daß zu jeder Art der Geſchicklichkeit ein eigener Kopf erfodert wuͤrde, und z. E. einer ſehr geſchickt ſeyn koͤnnte, die Fehler der Schreib-Art anderer zu entdecken, ohne daß er ſelbſt in der Schreib-Art es anderen zuvor thaͤte. Wollen Sie mir erlauben, die wahre Ur- ſache hievon aufzuſuchen, daß wir ſo leicht die Feh- ler anderer entdecken? Die menſchliche Natur iſt ſich der Maͤngel denen ſie unterworfen iſt (d. i. de- nen wir ſelbſt unterworfen ſind) bewuſt, und will deswegen ein Straf-Amt uͤben: ſie wendet aber die Augen bey dem Strafen nicht einwaͤrts, ſon- dern auswaͤrts. Sie hat mehr Luſt ſich um den
Nachbar
X 2
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0337"n="323"/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/>
dern fuͤr ihre Ausdruͤcke und Urtheile eine liebreiche<lb/>
und hoͤfliche Werthachtung heget? Muß das Frau-<lb/>
enzimmer ſich nicht billig bemuͤhen, einer ſolchen<lb/>
Manns-Perſon Muth zu machen und gleichſam<lb/>
die Lippen aufzuſchließen?</p><lb/><p>Was fuͤr ein Loos habe ich hingegen bekommen?<lb/>
Wir alle haben die Schwachheit, daß wir andere<lb/>
lehren wollen: ſo viel iſt aber doch gewiß, daß ich<lb/>
jetzt weit geſchickter bin hievon zu reden oder zu<lb/>ſchreiben, als ich ehemahls war. Allein ich will<lb/>
meine Umſtaͤnde und mich ſelbſt gantz aus einem<lb/>
Briefe verbannen, der meinem erſten Vorſatz nach<lb/>
blos von Jhnen handeln ſollte.</p><lb/><p>Meine liebſte, meine allerliebſte Freundin, wie<lb/>
fertig ſind Sie, zu beſtimmen, was andere thun ſol-<lb/>
len, und was ſelbſt Jhre Frau Mutter gethan<lb/>
haben ſollte! Mich duͤnckt, ich erinnere mich,<lb/>
daß Sie ehemahls behaupteten, daß zu jeder Art<lb/>
der Geſchicklichkeit ein eigener Kopf erfodert wuͤrde,<lb/>
und z. E. einer ſehr geſchickt ſeyn koͤnnte, die Fehler<lb/>
der Schreib-Art anderer zu entdecken, ohne<lb/>
daß er ſelbſt in der Schreib-Art es anderen zuvor<lb/>
thaͤte. Wollen Sie mir erlauben, die wahre Ur-<lb/>ſache hievon aufzuſuchen, daß wir ſo leicht die Feh-<lb/>
ler anderer entdecken? Die menſchliche Natur iſt<lb/>ſich der Maͤngel denen ſie unterworfen iſt (d. i. de-<lb/>
nen wir ſelbſt unterworfen ſind) bewuſt, und will<lb/>
deswegen ein Straf-Amt uͤben: ſie wendet aber<lb/>
die Augen bey dem Strafen nicht einwaͤrts, ſon-<lb/>
dern auswaͤrts. Sie hat mehr Luſt ſich um den<lb/><fwplace="bottom"type="sig">X 2</fw><fwplace="bottom"type="catch">Nachbar</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[323/0337]
dern fuͤr ihre Ausdruͤcke und Urtheile eine liebreiche
und hoͤfliche Werthachtung heget? Muß das Frau-
enzimmer ſich nicht billig bemuͤhen, einer ſolchen
Manns-Perſon Muth zu machen und gleichſam
die Lippen aufzuſchließen?
Was fuͤr ein Loos habe ich hingegen bekommen?
Wir alle haben die Schwachheit, daß wir andere
lehren wollen: ſo viel iſt aber doch gewiß, daß ich
jetzt weit geſchickter bin hievon zu reden oder zu
ſchreiben, als ich ehemahls war. Allein ich will
meine Umſtaͤnde und mich ſelbſt gantz aus einem
Briefe verbannen, der meinem erſten Vorſatz nach
blos von Jhnen handeln ſollte.
Meine liebſte, meine allerliebſte Freundin, wie
fertig ſind Sie, zu beſtimmen, was andere thun ſol-
len, und was ſelbſt Jhre Frau Mutter gethan
haben ſollte! Mich duͤnckt, ich erinnere mich,
daß Sie ehemahls behaupteten, daß zu jeder Art
der Geſchicklichkeit ein eigener Kopf erfodert wuͤrde,
und z. E. einer ſehr geſchickt ſeyn koͤnnte, die Fehler
der Schreib-Art anderer zu entdecken, ohne
daß er ſelbſt in der Schreib-Art es anderen zuvor
thaͤte. Wollen Sie mir erlauben, die wahre Ur-
ſache hievon aufzuſuchen, daß wir ſo leicht die Feh-
ler anderer entdecken? Die menſchliche Natur iſt
ſich der Maͤngel denen ſie unterworfen iſt (d. i. de-
nen wir ſelbſt unterworfen ſind) bewuſt, und will
deswegen ein Straf-Amt uͤben: ſie wendet aber
die Augen bey dem Strafen nicht einwaͤrts, ſon-
dern auswaͤrts. Sie hat mehr Luſt ſich um den
Nachbar
X 2
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 3. Göttingen, 1749, S. 323. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa03_1749/337>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.