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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 3. Göttingen, 1749.

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Die Heftigkeit meines Vaters ist ihr so empfind-
lich gewesen, daß sie noch jetzt daran gedenckt, nach-
dem sie alle ehemahlige Liebe und Zärtlichkeit läng-
stens vergessen zu haben scheinet. Sollten nicht
manche Töchter glauben, daß ihren Müttern das
Gebot des Gehorsams sehr unerträglich gewesen
sey, wenn sie aller Gelegenheit wahrnehmen, ihre
Herrschaft über ihre Kinder zu zeigen, und nachdem
sie lange Witwen sind, es bedauren, daß sie ihre
Männer nicht eben so beherrschet haben?

Wenn es sich für mich nicht allzu wohl schicket,
dergleichen Ausdrücke von meiner Mutter zu ge-
brauchen, so wird doch meine Sünde durch meine
zärtliche Liebe und beständige Ehrfurcht gegen mei-
nen Vater verringert werden. Er war für mich ein
gütiger Vater: und vielleicht wäre er auch ein
freundlicher und leutseeliger Ehemann gewesen,
wenn meine Mutter nicht mehr von seinem Geiste
gehabt hätte, als zu einer vergnügten Verbindung
zwischen ihnen nöthig war.

Es war ein Unglück, daß, sobald der eine Theil
verdrießlich war, der andere auch sogleich verdrieß-
lich ward. Sonst hatte keiner von beyden ein schlim-
meres Hertz als der andere. Jndessen, ob ich gleich
nur ein kleines Mädchen war, als mein Vater
starb, so kam es mir doch niemahls vor, daß das
Joch meiner Mutter so beschwerlich gewesen sey, als
sie mir es bisweilen vorzustellen pflegt, wenn sie mir
vorwirft, daß ich nicht ihre, sondern meines Va-
ters Tochter sey. Jch habe oft bey mir selbst
gedacht: wenn Eltern von ihren Kindern eine un-

getheilte
Dritter Theil. U


Die Heftigkeit meines Vaters iſt ihr ſo empfind-
lich geweſen, daß ſie noch jetzt daran gedenckt, nach-
dem ſie alle ehemahlige Liebe und Zaͤrtlichkeit laͤng-
ſtens vergeſſen zu haben ſcheinet. Sollten nicht
manche Toͤchter glauben, daß ihren Muͤttern das
Gebot des Gehorſams ſehr unertraͤglich geweſen
ſey, wenn ſie aller Gelegenheit wahrnehmen, ihre
Herrſchaft uͤber ihre Kinder zu zeigen, und nachdem
ſie lange Witwen ſind, es bedauren, daß ſie ihre
Maͤnner nicht eben ſo beherrſchet haben?

Wenn es ſich fuͤr mich nicht allzu wohl ſchicket,
dergleichen Ausdruͤcke von meiner Mutter zu ge-
brauchen, ſo wird doch meine Suͤnde durch meine
zaͤrtliche Liebe und beſtaͤndige Ehrfurcht gegen mei-
nen Vater verringert werden. Er war fuͤr mich ein
guͤtiger Vater: und vielleicht waͤre er auch ein
freundlicher und leutſeeliger Ehemann geweſen,
wenn meine Mutter nicht mehr von ſeinem Geiſte
gehabt haͤtte, als zu einer vergnuͤgten Verbindung
zwiſchen ihnen noͤthig war.

Es war ein Ungluͤck, daß, ſobald der eine Theil
verdrießlich war, der andere auch ſogleich verdrieß-
lich ward. Sonſt hatte keiner von beyden ein ſchlim-
meres Hertz als der andere. Jndeſſen, ob ich gleich
nur ein kleines Maͤdchen war, als mein Vater
ſtarb, ſo kam es mir doch niemahls vor, daß das
Joch meiner Mutter ſo beſchwerlich geweſen ſey, als
ſie mir es bisweilen vorzuſtellen pflegt, wenn ſie mir
vorwirft, daß ich nicht ihre, ſondern meines Va-
ters Tochter ſey. Jch habe oft bey mir ſelbſt
gedacht: wenn Eltern von ihren Kindern eine un-

getheilte
Dritter Theil. U
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[305/0319] Die Heftigkeit meines Vaters iſt ihr ſo empfind- lich geweſen, daß ſie noch jetzt daran gedenckt, nach- dem ſie alle ehemahlige Liebe und Zaͤrtlichkeit laͤng- ſtens vergeſſen zu haben ſcheinet. Sollten nicht manche Toͤchter glauben, daß ihren Muͤttern das Gebot des Gehorſams ſehr unertraͤglich geweſen ſey, wenn ſie aller Gelegenheit wahrnehmen, ihre Herrſchaft uͤber ihre Kinder zu zeigen, und nachdem ſie lange Witwen ſind, es bedauren, daß ſie ihre Maͤnner nicht eben ſo beherrſchet haben? Wenn es ſich fuͤr mich nicht allzu wohl ſchicket, dergleichen Ausdruͤcke von meiner Mutter zu ge- brauchen, ſo wird doch meine Suͤnde durch meine zaͤrtliche Liebe und beſtaͤndige Ehrfurcht gegen mei- nen Vater verringert werden. Er war fuͤr mich ein guͤtiger Vater: und vielleicht waͤre er auch ein freundlicher und leutſeeliger Ehemann geweſen, wenn meine Mutter nicht mehr von ſeinem Geiſte gehabt haͤtte, als zu einer vergnuͤgten Verbindung zwiſchen ihnen noͤthig war. Es war ein Ungluͤck, daß, ſobald der eine Theil verdrießlich war, der andere auch ſogleich verdrieß- lich ward. Sonſt hatte keiner von beyden ein ſchlim- meres Hertz als der andere. Jndeſſen, ob ich gleich nur ein kleines Maͤdchen war, als mein Vater ſtarb, ſo kam es mir doch niemahls vor, daß das Joch meiner Mutter ſo beſchwerlich geweſen ſey, als ſie mir es bisweilen vorzuſtellen pflegt, wenn ſie mir vorwirft, daß ich nicht ihre, ſondern meines Va- ters Tochter ſey. Jch habe oft bey mir ſelbſt gedacht: wenn Eltern von ihren Kindern eine un- getheilte Dritter Theil. U

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Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 3. Göttingen, 1749, S. 305. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa03_1749/319>, abgerufen am 25.11.2024.