Das ist so viel, als: die gemeine Sage! Soll man die Tugend an der gemeinen Sage erkennen? Jst ihre Tugend jemahls auf die Probe gestellet? Wer hat sich das bisher unterstanden?
Jch habe dir gemeldet, daß ich alles überlegen, und gleichsam mit mir selbst streiten wollte. Jch habe angefangen dieses zu thun, ehe ich daran gedachte.
Laß mich alles genau untersuchen!
Jch weiß, wie übel das lautet, was ich bisher gesagt habe, und noch ferner sagen werde. Allein was thue ich anders, als daß ich die Tugend auf den Probier-Stein bringe, um sie desto mehr zu ehren, wenn es wahre Tugend ist? Weg demnach mit al- len Einwendungen, welche aus der Schwachheit entstehen können, die man fälschlich Danckbarkeit nennet, und die öfters ein edles Hertz verführet!
Zur Probe! dieses unvergleichliche Kind soll die allerschärfste Probe ausstehen: damit das gan- tze schöne Geschlecht, so viel ihrer etwas aus mei- nen Briefen lesen dürfen. (Denn ich weiß doch, daß du die Hertzen deiner Bekannten bisweilen mit ei- nigen Stellen aus meinen Briefen erquickest, die niemanden zum Nachtheil gereichen, und keinen Nahmen verrathen. Desto mehr habe ich Lust, dir aufzuwarten.) Damit, sage ich, alle schöne Kinder sehen mögen, wie sie beschaffen seyn sollen, und was man von ihnen erwartet; insonderheit, wie sorgfältig sie seyn sollen, wenn sie mit einem nachdenckenden (hochmüthigen, wirst du dazu setzen) Liebhaber zu thun haben, daß er nicht
schlech-
Das iſt ſo viel, als: die gemeine Sage! Soll man die Tugend an der gemeinen Sage erkennen? Jſt ihre Tugend jemahls auf die Probe geſtellet? Wer hat ſich das bisher unterſtanden?
Jch habe dir gemeldet, daß ich alles uͤberlegen, und gleichſam mit mir ſelbſt ſtreiten wollte. Jch habe angefangen dieſes zu thun, ehe ich daran gedachte.
Laß mich alles genau unterſuchen!
Jch weiß, wie uͤbel das lautet, was ich bisher geſagt habe, und noch ferner ſagen werde. Allein was thue ich anders, als daß ich die Tugend auf den Probier-Stein bringe, um ſie deſto mehr zu ehren, wenn es wahre Tugend iſt? Weg demnach mit al- len Einwendungen, welche aus der Schwachheit entſtehen koͤnnen, die man faͤlſchlich Danckbarkeit nennet, und die oͤfters ein edles Hertz verfuͤhret!
Zur Probe! dieſes unvergleichliche Kind ſoll die allerſchaͤrfſte Probe ausſtehen: damit das gan- tze ſchoͤne Geſchlecht, ſo viel ihrer etwas aus mei- nen Briefen leſen duͤrfen. (Denn ich weiß doch, daß du die Hertzen deiner Bekannten bisweilen mit ei- nigen Stellen aus meinen Briefen erquickeſt, die niemanden zum Nachtheil gereichen, und keinen Nahmen verrathen. Deſto mehr habe ich Luſt, dir aufzuwarten.) Damit, ſage ich, alle ſchoͤne Kinder ſehen moͤgen, wie ſie beſchaffen ſeyn ſollen, und was man von ihnen erwartet; inſonderheit, wie ſorgfaͤltig ſie ſeyn ſollen, wenn ſie mit einem nachdenckenden (hochmuͤthigen, wirſt du dazu ſetzen) Liebhaber zu thun haben, daß er nicht
ſchlech-
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0182"n="168"/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><p>Das iſt ſo viel, als: die gemeine Sage! Soll<lb/>
man die Tugend an der gemeinen Sage erkennen?<lb/>
Jſt ihre Tugend jemahls auf die Probe geſtellet?<lb/>
Wer hat ſich das bisher unterſtanden?</p><lb/><p>Jch habe dir gemeldet, daß ich alles uͤberlegen,<lb/>
und gleichſam mit mir ſelbſt ſtreiten wollte. Jch<lb/>
habe angefangen dieſes zu thun, ehe ich daran<lb/>
gedachte.</p><lb/><p>Laß mich alles genau unterſuchen!</p><lb/><p>Jch weiß, wie uͤbel das lautet, was ich bisher<lb/>
geſagt habe, und noch ferner ſagen werde. Allein<lb/>
was thue ich anders, als daß ich die Tugend auf den<lb/>
Probier-Stein bringe, um ſie deſto mehr zu ehren,<lb/>
wenn es wahre Tugend iſt? Weg demnach mit al-<lb/>
len Einwendungen, welche aus der Schwachheit<lb/>
entſtehen koͤnnen, die man faͤlſchlich <hirendition="#fr">Danckbarkeit</hi><lb/>
nennet, und die oͤfters ein edles Hertz verfuͤhret!</p><lb/><p>Zur Probe! dieſes unvergleichliche Kind ſoll<lb/>
die allerſchaͤrfſte Probe ausſtehen: damit das gan-<lb/>
tze ſchoͤne Geſchlecht, ſo viel ihrer etwas aus mei-<lb/>
nen Briefen leſen duͤrfen. (Denn ich weiß doch, daß<lb/>
du die Hertzen deiner Bekannten bisweilen mit ei-<lb/>
nigen Stellen aus meinen Briefen erquickeſt, die<lb/>
niemanden zum Nachtheil gereichen, und keinen<lb/>
Nahmen verrathen. Deſto mehr habe ich Luſt,<lb/>
dir aufzuwarten.) Damit, ſage ich, alle ſchoͤne<lb/>
Kinder ſehen moͤgen, wie ſie beſchaffen ſeyn ſollen,<lb/>
und was man von ihnen erwartet; inſonderheit,<lb/>
wie ſorgfaͤltig ſie ſeyn ſollen, wenn ſie mit einem<lb/>
nachdenckenden (<hirendition="#fr">hochmuͤthigen,</hi> wirſt du dazu<lb/>ſetzen) Liebhaber zu thun haben, daß er nicht<lb/><fwplace="bottom"type="catch">ſchlech-</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[168/0182]
Das iſt ſo viel, als: die gemeine Sage! Soll
man die Tugend an der gemeinen Sage erkennen?
Jſt ihre Tugend jemahls auf die Probe geſtellet?
Wer hat ſich das bisher unterſtanden?
Jch habe dir gemeldet, daß ich alles uͤberlegen,
und gleichſam mit mir ſelbſt ſtreiten wollte. Jch
habe angefangen dieſes zu thun, ehe ich daran
gedachte.
Laß mich alles genau unterſuchen!
Jch weiß, wie uͤbel das lautet, was ich bisher
geſagt habe, und noch ferner ſagen werde. Allein
was thue ich anders, als daß ich die Tugend auf den
Probier-Stein bringe, um ſie deſto mehr zu ehren,
wenn es wahre Tugend iſt? Weg demnach mit al-
len Einwendungen, welche aus der Schwachheit
entſtehen koͤnnen, die man faͤlſchlich Danckbarkeit
nennet, und die oͤfters ein edles Hertz verfuͤhret!
Zur Probe! dieſes unvergleichliche Kind ſoll
die allerſchaͤrfſte Probe ausſtehen: damit das gan-
tze ſchoͤne Geſchlecht, ſo viel ihrer etwas aus mei-
nen Briefen leſen duͤrfen. (Denn ich weiß doch, daß
du die Hertzen deiner Bekannten bisweilen mit ei-
nigen Stellen aus meinen Briefen erquickeſt, die
niemanden zum Nachtheil gereichen, und keinen
Nahmen verrathen. Deſto mehr habe ich Luſt,
dir aufzuwarten.) Damit, ſage ich, alle ſchoͤne
Kinder ſehen moͤgen, wie ſie beſchaffen ſeyn ſollen,
und was man von ihnen erwartet; inſonderheit,
wie ſorgfaͤltig ſie ſeyn ſollen, wenn ſie mit einem
nachdenckenden (hochmuͤthigen, wirſt du dazu
ſetzen) Liebhaber zu thun haben, daß er nicht
ſchlech-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 3. Göttingen, 1749, S. 168. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa03_1749/182>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.