Jch bin es schon wohnt geworden, von sol- chen vorgezogen zu werden, die dir am Stande gleich sind, ob sie dir gleich an eigenen Vorzügen nicht gleich gekommen sind. Wo ist aber ein Erauenzimmer, das hierin von dir nicht übertroffen wird? Soll ich nun eine solche Schöne heyrathen, von der ich nicht versichert bin, ob ihr Hertz mir ei- nen Vorzug vor allen andern Freyern giebet?
Nein, schönes Kind! Jch bin deinen Befehlen viel zu gehorsahm, als daß ich sollte zugeben, daß sie selbst von dir gebrochen würden. Jch will mir deine Meinung nicht blos durch ein schüchternes Stillschweigen sagen lassen. Jch will nicht im Zweifel bleiben, ob du dich aus Liebe oder aus Noth so weit heruntergelassen hast, auf meinen An- trag nicht allzu viele Ungnade zu werfen.
Nach diesen Regeln handelte ich; und legte ihr Stilleschweigen als eine Folge ihrer Verachtung und ihres Misvergnügens aus. Jch bat sie um Vergebung, daß ich einen Antrag gethan hätte, von dem ich mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit zum voraus sehen konnte, daß er ihr unangenehm seyn würde. Jch würde künftig allen ihren ehemaligen Befehlen die genaueste Folge leisten, und sie sollte in meiner gantzen Aufführung die Wahrheit des Satzes spüren: daß die wahre Liebe sehr furchtsahm ist, die Geliebte zu beleidigen.
Mich dünckt, du fragest: was konnte die Fräu- lein hierzu sagen?
Sagen? - - Sie sahe misvergnügt, ver- stört, verwirret aus, und als wenn sie nicht recht
wüßte,
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Jch bin es ſchon wohnt geworden, von ſol- chen vorgezogen zu werden, die dir am Stande gleich ſind, ob ſie dir gleich an eigenen Vorzuͤgen nicht gleich gekommen ſind. Wo iſt aber ein Erauenzimmer, das hierin von dir nicht uͤbertroffen wird? Soll ich nun eine ſolche Schoͤne heyrathen, von der ich nicht verſichert bin, ob ihr Hertz mir ei- nen Vorzug vor allen andern Freyern giebet?
Nein, ſchoͤnes Kind! Jch bin deinen Befehlen viel zu gehorſahm, als daß ich ſollte zugeben, daß ſie ſelbſt von dir gebrochen wuͤrden. Jch will mir deine Meinung nicht blos durch ein ſchuͤchternes Stillſchweigen ſagen laſſen. Jch will nicht im Zweifel bleiben, ob du dich aus Liebe oder aus Noth ſo weit heruntergelaſſen haſt, auf meinen An- trag nicht allzu viele Ungnade zu werfen.
Nach dieſen Regeln handelte ich; und legte ihr Stilleſchweigen als eine Folge ihrer Verachtung und ihres Misvergnuͤgens aus. Jch bat ſie um Vergebung, daß ich einen Antrag gethan haͤtte, von dem ich mit ziemlicher Wahrſcheinlichkeit zum voraus ſehen konnte, daß er ihr unangenehm ſeyn wuͤrde. Jch wuͤrde kuͤnftig allen ihren ehemaligen Befehlen die genaueſte Folge leiſten, und ſie ſollte in meiner gantzen Auffuͤhrung die Wahrheit des Satzes ſpuͤren: daß die wahre Liebe ſehr furchtſahm iſt, die Geliebte zu beleidigen.
Mich duͤnckt, du frageſt: was konnte die Fraͤu- lein hierzu ſagen?
Sagen? ‒ ‒ Sie ſahe misvergnuͤgt, ver- ſtoͤrt, verwirret aus, und als wenn ſie nicht recht
wuͤßte,
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Jch bin es ſchon wohnt geworden, von ſol-
chen vorgezogen zu werden, die dir am Stande
gleich ſind, ob ſie dir gleich an eigenen Vorzuͤgen
nicht gleich gekommen ſind. Wo iſt aber ein
Erauenzimmer, das hierin von dir nicht uͤbertroffen
wird? Soll ich nun eine ſolche Schoͤne heyrathen,
von der ich nicht verſichert bin, ob ihr Hertz mir ei-
nen Vorzug vor allen andern Freyern giebet?
Nein, ſchoͤnes Kind! Jch bin deinen Befehlen
viel zu gehorſahm, als daß ich ſollte zugeben, daß
ſie ſelbſt von dir gebrochen wuͤrden. Jch will mir
deine Meinung nicht blos durch ein ſchuͤchternes
Stillſchweigen ſagen laſſen. Jch will nicht im
Zweifel bleiben, ob du dich aus Liebe oder aus
Noth ſo weit heruntergelaſſen haſt, auf meinen An-
trag nicht allzu viele Ungnade zu werfen.
Nach dieſen Regeln handelte ich; und legte ihr
Stilleſchweigen als eine Folge ihrer Verachtung
und ihres Misvergnuͤgens aus. Jch bat ſie um
Vergebung, daß ich einen Antrag gethan haͤtte,
von dem ich mit ziemlicher Wahrſcheinlichkeit zum
voraus ſehen konnte, daß er ihr unangenehm ſeyn
wuͤrde. Jch wuͤrde kuͤnftig allen ihren ehemaligen
Befehlen die genaueſte Folge leiſten, und ſie ſollte
in meiner gantzen Auffuͤhrung die Wahrheit des
Satzes ſpuͤren: daß die wahre Liebe ſehr furchtſahm
iſt, die Geliebte zu beleidigen.
Mich duͤnckt, du frageſt: was konnte die Fraͤu-
lein hierzu ſagen?
Sagen? ‒ ‒ Sie ſahe misvergnuͤgt, ver-
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 3. Göttingen, 1749, S. 163. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa03_1749/177>, abgerufen am 24.11.2024.
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