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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 3. Göttingen, 1749.

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Vorrede.
lügen, und könnten doch auch nichts wahres
sagen. Anstatt des Lebens und der Sit-
ten
fand man in ihren Ausschweifungen,
die viele Bänder fülleten, nichts als Liebe
und Ehrbegierde. Allein wenn man die
Platonische Liebe zu weit treibt, so pflegt
sie gemeiniglich sich am meisten zu erniedri-
gen, und sich in den Abschaum der Liebe
zu verwandeln. Die kleineren Liebes-Ge-
schichte, die auf jene dicken Bände von Hel-
den-Geschichten folgeten, vermieden die vo-
rigen Fehler der Spanier und Frantzosen:
allein sie stelleten ihre Geschichte allzu na-
türlich vor, und verdarben das Hertz,
anstatt daß jene den Geschmack verdorben
hatten.

Unser grosses Volck, dem alle Wissenschaf-
ten einen unendlichen Danck schuldig sind,
traf endlich die rechte Mittelstrasse, und er-
fand das Geheimniß, eineerdichtete Geschich-
te so zu erzählen, daß der gute Geschmack
vergnüget, und der verdorbene Geschmack
gebessert ward. Man suchte dem Leben
und den Sitten der Menschen auf eine treue
aber dabey zuchtige Art nach zu folgen. Ei-
nige unserer neuesten Schriftsteller haben sich
hiedurch grossen Ruhm erworben.

Diesen

Vorrede.
luͤgen, und koͤnnten doch auch nichts wahres
ſagen. Anſtatt des Lebens und der Sit-
ten
fand man in ihren Ausſchweifungen,
die viele Baͤnder fuͤlleten, nichts als Liebe
und Ehrbegierde. Allein wenn man die
Platoniſche Liebe zu weit treibt, ſo pflegt
ſie gemeiniglich ſich am meiſten zu erniedri-
gen, und ſich in den Abſchaum der Liebe
zu verwandeln. Die kleineren Liebes-Ge-
ſchichte, die auf jene dicken Baͤnde von Hel-
den-Geſchichten folgeten, vermieden die vo-
rigen Fehler der Spanier und Frantzoſen:
allein ſie ſtelleten ihre Geſchichte allzu na-
tuͤrlich vor, und verdarben das Hertz,
anſtatt daß jene den Geſchmack verdorben
hatten.

Unſer groſſes Volck, dem alle Wiſſenſchaf-
ten einen unendlichen Danck ſchuldig ſind,
traf endlich die rechte Mittelſtraſſe, und er-
fand das Geheimniß, eineerdichtete Geſchich-
te ſo zu erzaͤhlen, daß der gute Geſchmack
vergnuͤget, und der verdorbene Geſchmack
gebeſſert ward. Man ſuchte dem Leben
und den Sitten der Menſchen auf eine treue
aber dabey zuchtige Art nach zu folgen. Ei-
nige unſerer neueſten Schriftſteller haben ſich
hiedurch groſſen Ruhm erworben.

Dieſen
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[0012] Vorrede. luͤgen, und koͤnnten doch auch nichts wahres ſagen. Anſtatt des Lebens und der Sit- ten fand man in ihren Ausſchweifungen, die viele Baͤnder fuͤlleten, nichts als Liebe und Ehrbegierde. Allein wenn man die Platoniſche Liebe zu weit treibt, ſo pflegt ſie gemeiniglich ſich am meiſten zu erniedri- gen, und ſich in den Abſchaum der Liebe zu verwandeln. Die kleineren Liebes-Ge- ſchichte, die auf jene dicken Baͤnde von Hel- den-Geſchichten folgeten, vermieden die vo- rigen Fehler der Spanier und Frantzoſen: allein ſie ſtelleten ihre Geſchichte allzu na- tuͤrlich vor, und verdarben das Hertz, anſtatt daß jene den Geſchmack verdorben hatten. Unſer groſſes Volck, dem alle Wiſſenſchaf- ten einen unendlichen Danck ſchuldig ſind, traf endlich die rechte Mittelſtraſſe, und er- fand das Geheimniß, eineerdichtete Geſchich- te ſo zu erzaͤhlen, daß der gute Geſchmack vergnuͤget, und der verdorbene Geſchmack gebeſſert ward. Man ſuchte dem Leben und den Sitten der Menſchen auf eine treue aber dabey zuchtige Art nach zu folgen. Ei- nige unſerer neueſten Schriftſteller haben ſich hiedurch groſſen Ruhm erworben. Dieſen

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Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 3. Göttingen, 1749, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa03_1749/12>, abgerufen am 23.04.2024.