[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 2. Göttingen, 1748.Die Geschichte Tugend der Grund davon sey: die Wahl gera-the selten glücklich: welche aus Liebe geschehe, zum wenigsten währe das Glück nicht lange. Es sey dieses leicht zu begreiffen. Denn die Liebe stelle uns des andern Vorzüge durch ein Vergröserungs-Glas vor, und mache uns blind, daß wir die Fehler an ihm nicht sehen könnten, die doch sonst einem jedweden in die Augen fie- len. So bald man näher mit einander bekannt würde, würden die eingebildeten Vorzüge unsicht- bar, und beyde Theile verwunderten sich, daß sie sich einander so betrogen hätten: hieraus entste- he eine viel grösere Kaltsinnigkeit als die Liebe vorhin gewesen sey. Ein Frauenzimmer gebe der Mannsperson allzuvielen Vortheil über sich, wenn es seine Liebe gestünde, und sich mercken lie- se, daß es diese Mannsperson allen andern vor- ziehe: Undanck und Verachtung pflege gemeinig- lich der Lohn dieser Zuneigung zu seyn. Hinge- gen wenn die Mannsperson gestehen müste, daß sich das Frauenzimmer zu ihr herabgelassen und durch ihr Ja sich verleugnet, und ihr eine Wohlthat erzeiget habe, so würde sie lauter Ehr- erbietung und Danckbarkeit und ich weiß nicht, was noch mehr seyn. Sie dencken, mein Kind (fuhr sie fort) sie ihnen
Die Geſchichte Tugend der Grund davon ſey: die Wahl gera-the ſelten gluͤcklich: welche aus Liebe geſchehe, zum wenigſten waͤhre das Gluͤck nicht lange. Es ſey dieſes leicht zu begreiffen. Denn die Liebe ſtelle uns des andern Vorzuͤge durch ein Vergroͤſerungs-Glas vor, und mache uns blind, daß wir die Fehler an ihm nicht ſehen koͤnnten, die doch ſonſt einem jedweden in die Augen fie- len. So bald man naͤher mit einander bekannt wuͤrde, wuͤrden die eingebildeten Vorzuͤge unſicht- bar, und beyde Theile verwunderten ſich, daß ſie ſich einander ſo betrogen haͤtten: hieraus entſte- he eine viel groͤſere Kaltſinnigkeit als die Liebe vorhin geweſen ſey. Ein Frauenzimmer gebe der Mannsperſon allzuvielen Vortheil uͤber ſich, wenn es ſeine Liebe geſtuͤnde, und ſich mercken lie- ſe, daß es dieſe Mannsperſon allen andern vor- ziehe: Undanck und Verachtung pflege gemeinig- lich der Lohn dieſer Zuneigung zu ſeyn. Hinge- gen wenn die Mannsperſon geſtehen muͤſte, daß ſich das Frauenzimmer zu ihr herabgelaſſen und durch ihr Ja ſich verleugnet, und ihr eine Wohlthat erzeiget habe, ſo wuͤrde ſie lauter Ehr- erbietung und Danckbarkeit und ich weiß nicht, was noch mehr ſeyn. Sie dencken, mein Kind (fuhr ſie fort) ſie ihnen
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Die Geſchichte
Tugend der Grund davon ſey: die Wahl gera-
the ſelten gluͤcklich: welche aus Liebe geſchehe,
zum wenigſten waͤhre das Gluͤck nicht lange.
Es ſey dieſes leicht zu begreiffen. Denn die
Liebe ſtelle uns des andern Vorzuͤge durch ein
Vergroͤſerungs-Glas vor, und mache uns blind,
daß wir die Fehler an ihm nicht ſehen koͤnnten,
die doch ſonſt einem jedweden in die Augen fie-
len. So bald man naͤher mit einander bekannt
wuͤrde, wuͤrden die eingebildeten Vorzuͤge unſicht-
bar, und beyde Theile verwunderten ſich, daß ſie
ſich einander ſo betrogen haͤtten: hieraus entſte-
he eine viel groͤſere Kaltſinnigkeit als die Liebe
vorhin geweſen ſey. Ein Frauenzimmer gebe
der Mannsperſon allzuvielen Vortheil uͤber ſich,
wenn es ſeine Liebe geſtuͤnde, und ſich mercken lie-
ſe, daß es dieſe Mannsperſon allen andern vor-
ziehe: Undanck und Verachtung pflege gemeinig-
lich der Lohn dieſer Zuneigung zu ſeyn. Hinge-
gen wenn die Mannsperſon geſtehen muͤſte,
daß ſich das Frauenzimmer zu ihr herabgelaſſen
und durch ihr Ja ſich verleugnet, und ihr eine
Wohlthat erzeiget habe, ſo wuͤrde ſie lauter Ehr-
erbietung und Danckbarkeit und ich weiß nicht,
was noch mehr ſeyn.
Sie dencken, mein Kind (fuhr ſie fort) ſie
wuͤrden bey Herrn Solmes ungluͤcklich ſeyn:
ihre Eltern dencken das Gegentheil und glauben,
ſie wuͤrden ohne Zweiffel bey Herrn Lovelace
ungluͤcklich werden, weil doch ſeine Lebens-Art
nicht zu entſchuldigen iſt. Geſetzt nun, es iſt
ihnen
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