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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 2. Göttingen, 1748.

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und verließ mich da, als eine Person die zum
Opfer ersehen ist.

Es war niemand da: ich setzte mich nieder
und hatte Zeit zu weinen, da ich das mit betrüb-
tem Hertzen überdachte, was mir Fräulein
Dorthgen gesagt hatte.

Die gantze Gesellschaft hielt sich in dem be-
nachbarten Saal meiner Schwester auf: denn
ich hörte ein reden unter einander. Einige spra-
chen so laut, daß man die mitleidige Stimme
anderer nicht hören konnte: so viel aber konnte
ich wol mercken, daß diese letztern Frauens-
Stimmen waren. Ach, mein Kind, was für
harte Hertzen hat das andere Geschlecht! Wie
kommen Kinder von einerley Eltern dazu, daß
der Sohn grausam ist, wenn die Schwester ein
mitleidiges Hertz hat? Lernen sie das auf Rei-
sen? oder gewöhnen sie sich in dem Umgang un-
tereinander dazu? Wie werden sie doch so hart-
hertzig? Wiewohl, meine Schwester hat eben ein
solches Hertz, als die übrigen. Allein das macht
doch keine Ausnahme, denn sie soll in ihrem Ge-
sicht und Gemüth viel männliches an sich haben.
Vielleicht hat sie eine Manns-Seele in einem
weiblichen Leibe. Dieses soll künftig aus Liebe
zu der Ehre unsers Geschlechts mein Urtheil von
einem jeden Frauenzimmer seyn, das die rauhen
Sitten der Manns-Personen annimt, und sich
auf eine unserm Geschlechte unanständige Art
aufführet.

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der Clariſſa.
und verließ mich da, als eine Perſon die zum
Opfer erſehen iſt.

Es war niemand da: ich ſetzte mich nieder
und hatte Zeit zu weinen, da ich das mit betruͤb-
tem Hertzen uͤberdachte, was mir Fraͤulein
Dorthgen geſagt hatte.

Die gantze Geſellſchaft hielt ſich in dem be-
nachbarten Saal meiner Schweſter auf: denn
ich hoͤrte ein reden unter einander. Einige ſpra-
chen ſo laut, daß man die mitleidige Stimme
anderer nicht hoͤren konnte: ſo viel aber konnte
ich wol mercken, daß dieſe letztern Frauens-
Stimmen waren. Ach, mein Kind, was fuͤr
harte Hertzen hat das andere Geſchlecht! Wie
kommen Kinder von einerley Eltern dazu, daß
der Sohn grauſam iſt, wenn die Schweſter ein
mitleidiges Hertz hat? Lernen ſie das auf Rei-
ſen? oder gewoͤhnen ſie ſich in dem Umgang un-
tereinander dazu? Wie werden ſie doch ſo hart-
hertzig? Wiewohl, meine Schweſter hat eben ein
ſolches Hertz, als die uͤbrigen. Allein das macht
doch keine Ausnahme, denn ſie ſoll in ihrem Ge-
ſicht und Gemuͤth viel maͤnnliches an ſich haben.
Vielleicht hat ſie eine Manns-Seele in einem
weiblichen Leibe. Dieſes ſoll kuͤnftig aus Liebe
zu der Ehre unſers Geſchlechts mein Urtheil von
einem jeden Frauenzimmer ſeyn, das die rauhen
Sitten der Manns-Perſonen annimt, und ſich
auf eine unſerm Geſchlechte unanſtaͤndige Art
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[329/0335] der Clariſſa. und verließ mich da, als eine Perſon die zum Opfer erſehen iſt. Es war niemand da: ich ſetzte mich nieder und hatte Zeit zu weinen, da ich das mit betruͤb- tem Hertzen uͤberdachte, was mir Fraͤulein Dorthgen geſagt hatte. Die gantze Geſellſchaft hielt ſich in dem be- nachbarten Saal meiner Schweſter auf: denn ich hoͤrte ein reden unter einander. Einige ſpra- chen ſo laut, daß man die mitleidige Stimme anderer nicht hoͤren konnte: ſo viel aber konnte ich wol mercken, daß dieſe letztern Frauens- Stimmen waren. Ach, mein Kind, was fuͤr harte Hertzen hat das andere Geſchlecht! Wie kommen Kinder von einerley Eltern dazu, daß der Sohn grauſam iſt, wenn die Schweſter ein mitleidiges Hertz hat? Lernen ſie das auf Rei- ſen? oder gewoͤhnen ſie ſich in dem Umgang un- tereinander dazu? Wie werden ſie doch ſo hart- hertzig? Wiewohl, meine Schweſter hat eben ein ſolches Hertz, als die uͤbrigen. Allein das macht doch keine Ausnahme, denn ſie ſoll in ihrem Ge- ſicht und Gemuͤth viel maͤnnliches an ſich haben. Vielleicht hat ſie eine Manns-Seele in einem weiblichen Leibe. Dieſes ſoll kuͤnftig aus Liebe zu der Ehre unſers Geſchlechts mein Urtheil von einem jeden Frauenzimmer ſeyn, das die rauhen Sitten der Manns-Perſonen annimt, und ſich auf eine unſerm Geſchlechte unanſtaͤndige Art auffuͤhret. Neh- X 5

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Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 2. Göttingen, 1748, S. 329. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa02_1748/335>, abgerufen am 18.05.2024.