Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 2. Göttingen, 1748.

Bild:
<< vorherige Seite

Die Geschichte
"von andern haben aufbringen lassen, mir an-
"ders, als ich verdiente, zu begegnen. Denn
"das ist offenbahr, daß Sie von andern aufge-
"bracht sind. Wenn Sie sich nun schämen,
"(wie mir mein Bruder zu verstehen giebt)
"daß Sie angefangen haben, gelinder und güti-
"ger gegen mich gesinnet zu seyn; so habe ich
"künfftig von keiner Seele Mitleiden zu gewar-
"ten. Jch bitte Sie demüthigst: lassen Sie
"mich nur von Jhrer eigenen Hand, eine Ant-
"wort haben. Jch will von meinem Bruder
"keine Antwort auf meine an Sie gerichteten
"Briefe, und keine Befehle annehmen, bis er sich
"darauf besonnen hat, was er einer Schwester
"schuldig ist.

"Jch soll jedermann bewegen! Das ha-
"ben Sie beliebt zu schreiben. Allein wen ha-
"be ich beweget? Jst es nicht klar, daß sonst
"jemand viel beweglichere Vorstellungen muß
"thun können? Sonst hätte er gewiß nicht
"alle in der Familie so weit gebracht, daß sie sich
"schämten, einem armen und unglücklichen Kin-
"de aus eben der Familie die geringste Liebe zu
"erzeigen.

"Schicken Sie mir diesen Brief nicht mit
"Verachtung, nicht unerbrochen, nicht zerrissen
"wieder zurück. Mein Vater hat freylich Recht,
"so, und noch härter, mit seinem Kinde zu ver-
"fahren. Allein keine Mannsperson in der Welt,
"jhn ausgenommen, darf einem jungen Frau-

en-

Die Geſchichte
„von andern haben aufbringen laſſen, mir an-
„ders, als ich verdiente, zu begegnen. Denn
„das iſt offenbahr, daß Sie von andern aufge-
„bracht ſind. Wenn Sie ſich nun ſchaͤmen,
„(wie mir mein Bruder zu verſtehen giebt)
„daß Sie angefangen haben, gelinder und guͤti-
„ger gegen mich geſinnet zu ſeyn; ſo habe ich
„kuͤnfftig von keiner Seele Mitleiden zu gewar-
„ten. Jch bitte Sie demuͤthigſt: laſſen Sie
„mich nur von Jhrer eigenen Hand, eine Ant-
„wort haben. Jch will von meinem Bruder
„keine Antwort auf meine an Sie gerichteten
„Briefe, und keine Befehle annehmen, bis er ſich
„darauf beſonnen hat, was er einer Schweſter
„ſchuldig iſt.

Jch ſoll jedermann bewegen! Das ha-
„ben Sie beliebt zu ſchreiben. Allein wen ha-
„be ich beweget? Jſt es nicht klar, daß ſonſt
„jemand viel beweglichere Vorſtellungen muß
„thun koͤnnen? Sonſt haͤtte er gewiß nicht
„alle in der Familie ſo weit gebracht, daß ſie ſich
„ſchaͤmten, einem armen und ungluͤcklichen Kin-
„de aus eben der Familie die geringſte Liebe zu
„erzeigen.

„Schicken Sie mir dieſen Brief nicht mit
„Verachtung, nicht unerbrochen, nicht zerriſſen
„wieder zuruͤck. Mein Vater hat freylich Recht,
„ſo, und noch haͤrter, mit ſeinem Kinde zu ver-
„fahren. Allein keine Mannsperſon in der Welt,
„jhn ausgenommen, darf einem jungen Frau-

en-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <floatingText>
            <body>
              <p><pb facs="#f0166" n="160"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#g">Die Ge&#x017F;chichte</hi></hi></fw><lb/>
&#x201E;von andern haben aufbringen la&#x017F;&#x017F;en, mir an-<lb/>
&#x201E;ders, als ich verdiente, zu begegnen. Denn<lb/>
&#x201E;das i&#x017F;t offenbahr, daß Sie von andern aufge-<lb/>
&#x201E;bracht &#x017F;ind. Wenn <hi rendition="#fr">Sie</hi> &#x017F;ich nun &#x017F;cha&#x0364;men,<lb/>
&#x201E;(wie mir mein Bruder zu ver&#x017F;tehen giebt)<lb/>
&#x201E;daß Sie angefangen haben, gelinder und gu&#x0364;ti-<lb/>
&#x201E;ger gegen mich ge&#x017F;innet zu &#x017F;eyn; &#x017F;o habe ich<lb/>
&#x201E;ku&#x0364;nfftig von keiner Seele Mitleiden zu gewar-<lb/>
&#x201E;ten. Jch bitte Sie demu&#x0364;thig&#x017F;t: la&#x017F;&#x017F;en Sie<lb/>
&#x201E;mich nur von Jhrer eigenen Hand, eine Ant-<lb/>
&#x201E;wort haben. Jch will von meinem Bruder<lb/>
&#x201E;keine Antwort auf meine an Sie gerichteten<lb/>
&#x201E;Briefe, und keine Befehle annehmen, bis er &#x017F;ich<lb/>
&#x201E;darauf be&#x017F;onnen hat, was er einer Schwe&#x017F;ter<lb/>
&#x201E;&#x017F;chuldig i&#x017F;t.</p><lb/>
              <p>&#x201E;<hi rendition="#fr">Jch &#x017F;oll jedermann bewegen!</hi> Das ha-<lb/>
&#x201E;ben Sie beliebt zu &#x017F;chreiben. Allein wen ha-<lb/>
&#x201E;be ich beweget? J&#x017F;t es nicht klar, daß &#x017F;on&#x017F;t<lb/>
&#x201E;jemand viel beweglichere Vor&#x017F;tellungen muß<lb/>
&#x201E;thun ko&#x0364;nnen? Son&#x017F;t ha&#x0364;tte er gewiß nicht<lb/>
&#x201E;alle in der Familie &#x017F;o weit gebracht, daß &#x017F;ie &#x017F;ich<lb/>
&#x201E;&#x017F;cha&#x0364;mten, einem armen und unglu&#x0364;cklichen Kin-<lb/>
&#x201E;de aus eben der Familie die gering&#x017F;te Liebe zu<lb/>
&#x201E;erzeigen.</p><lb/>
              <p>&#x201E;Schicken Sie mir die&#x017F;en Brief nicht mit<lb/>
&#x201E;Verachtung, nicht unerbrochen, nicht zerri&#x017F;&#x017F;en<lb/>
&#x201E;wieder zuru&#x0364;ck. Mein Vater hat freylich Recht,<lb/>
&#x201E;&#x017F;o, und noch ha&#x0364;rter, mit &#x017F;einem Kinde zu ver-<lb/>
&#x201E;fahren. Allein keine Mannsper&#x017F;on in der Welt,<lb/>
&#x201E;jhn ausgenommen, darf einem jungen Frau-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">en-</fw><lb/></p>
            </body>
          </floatingText>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[160/0166] Die Geſchichte „von andern haben aufbringen laſſen, mir an- „ders, als ich verdiente, zu begegnen. Denn „das iſt offenbahr, daß Sie von andern aufge- „bracht ſind. Wenn Sie ſich nun ſchaͤmen, „(wie mir mein Bruder zu verſtehen giebt) „daß Sie angefangen haben, gelinder und guͤti- „ger gegen mich geſinnet zu ſeyn; ſo habe ich „kuͤnfftig von keiner Seele Mitleiden zu gewar- „ten. Jch bitte Sie demuͤthigſt: laſſen Sie „mich nur von Jhrer eigenen Hand, eine Ant- „wort haben. Jch will von meinem Bruder „keine Antwort auf meine an Sie gerichteten „Briefe, und keine Befehle annehmen, bis er ſich „darauf beſonnen hat, was er einer Schweſter „ſchuldig iſt. „Jch ſoll jedermann bewegen! Das ha- „ben Sie beliebt zu ſchreiben. Allein wen ha- „be ich beweget? Jſt es nicht klar, daß ſonſt „jemand viel beweglichere Vorſtellungen muß „thun koͤnnen? Sonſt haͤtte er gewiß nicht „alle in der Familie ſo weit gebracht, daß ſie ſich „ſchaͤmten, einem armen und ungluͤcklichen Kin- „de aus eben der Familie die geringſte Liebe zu „erzeigen. „Schicken Sie mir dieſen Brief nicht mit „Verachtung, nicht unerbrochen, nicht zerriſſen „wieder zuruͤck. Mein Vater hat freylich Recht, „ſo, und noch haͤrter, mit ſeinem Kinde zu ver- „fahren. Allein keine Mannsperſon in der Welt, „jhn ausgenommen, darf einem jungen Frau- en-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa02_1748
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa02_1748/166
Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 2. Göttingen, 1748, S. 160. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa02_1748/166>, abgerufen am 01.05.2024.