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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 1. Göttingen, 1748.

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der Clarissa.
Leben führen, welches er ihr durch einen kleinen
Theil dessen, was er übrig hat, leicht versüssen kön-
te? Er kan es mit geduldigen Augen und ohne
sich zu schämen ansehen, daß sein alter Onckle,
der Bruder seiner leiblichen Mutter, fremden für
den nothdürftigen Unterhalt dancken muß, den ihm
ein halb dutzend gutthätige Familien zufliessen las-
sen. Sie kennen mein offenes, mein bewegliches
und mitleydiges Hertz. Wie unglücklich würde
ich seyn, wenn der karge Wille eines solchen Men-
schen, der an niemand als an sich selbst denckt,
mein Gesetz seyn sollte? Er ist einmal in einem
folchen engen Circkel der Freundschaft und Men-
schen-Liebe gerathen, aus welchem ihn sein teufli-
scher Geitz eben so wenig schreiten läßt, als ein Be-
schwerer aus seinem Zauber-Crayse treten darf:
und er würde eben so wenig zulassen, daß ich diese
Gräntzen überträte.

Solte ein solcher Mensch wol wissen, was Liebe
ist? Meines Grosvaters Gut mag er vielleicht lie-
ben, welches (wie er andern Leuten gesagt hat)
ihm so bequem lieget, daß er einige seiner Güter
doppelt würde nutzen können, wenn er es dazu hät-
te. Er hat nicht einmal seinem Geitz so viel wi-
derstehen können, daß er mir dieses nicht mit der
vergnügten Mine solte zu verstehen gegeben haben,
die ein niederträchtiges Hertz auf der Stirne zu
mahlen pflegt, wenn es an seinen Eigennutz gedenkt,
und den schon für einen hinlänglichen Bewegungs-
Grund ansiehet, daß ihm andere seine Bitte ge-
währen sollen. Dieses Gut, und die Ehre die

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der Clariſſa.
Leben fuͤhren, welches er ihr durch einen kleinen
Theil deſſen, was er uͤbrig hat, leicht verſuͤſſen koͤn-
te? Er kan es mit geduldigen Augen und ohne
ſich zu ſchaͤmen anſehen, daß ſein alter Onckle,
der Bruder ſeiner leiblichen Mutter, fremden fuͤr
den nothduͤrftigen Unterhalt dancken muß, den ihm
ein halb dutzend gutthaͤtige Familien zuflieſſen laſ-
ſen. Sie kennen mein offenes, mein bewegliches
und mitleydiges Hertz. Wie ungluͤcklich wuͤrde
ich ſeyn, wenn der karge Wille eines ſolchen Men-
ſchen, der an niemand als an ſich ſelbſt denckt,
mein Geſetz ſeyn ſollte? Er iſt einmal in einem
folchen engen Circkel der Freundſchaft und Men-
ſchen-Liebe gerathen, aus welchem ihn ſein teufli-
ſcher Geitz eben ſo wenig ſchreiten laͤßt, als ein Be-
ſchwerer aus ſeinem Zauber-Crayſe treten darf:
und er wuͤrde eben ſo wenig zulaſſen, daß ich dieſe
Graͤntzen uͤbertraͤte.

Solte ein ſolcher Menſch wol wiſſen, was Liebe
iſt? Meines Grosvaters Gut mag er vielleicht lie-
ben, welches (wie er andern Leuten geſagt hat)
ihm ſo bequem lieget, daß er einige ſeiner Guͤter
doppelt wuͤrde nutzen koͤnnen, wenn er es dazu haͤt-
te. Er hat nicht einmal ſeinem Geitz ſo viel wi-
derſtehen koͤnnen, daß er mir dieſes nicht mit der
vergnuͤgten Mine ſolte zu verſtehen gegeben haben,
die ein niedertraͤchtiges Hertz auf der Stirne zu
mahlen pflegt, weñ es an ſeinen Eigennutz gedenkt,
und den ſchon fuͤꝛ einen hinlaͤnglichen Bewegungs-
Grund anſiehet, daß ihm andere ſeine Bitte ge-
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[357/0377] der Clariſſa. Leben fuͤhren, welches er ihr durch einen kleinen Theil deſſen, was er uͤbrig hat, leicht verſuͤſſen koͤn- te? Er kan es mit geduldigen Augen und ohne ſich zu ſchaͤmen anſehen, daß ſein alter Onckle, der Bruder ſeiner leiblichen Mutter, fremden fuͤr den nothduͤrftigen Unterhalt dancken muß, den ihm ein halb dutzend gutthaͤtige Familien zuflieſſen laſ- ſen. Sie kennen mein offenes, mein bewegliches und mitleydiges Hertz. Wie ungluͤcklich wuͤrde ich ſeyn, wenn der karge Wille eines ſolchen Men- ſchen, der an niemand als an ſich ſelbſt denckt, mein Geſetz ſeyn ſollte? Er iſt einmal in einem folchen engen Circkel der Freundſchaft und Men- ſchen-Liebe gerathen, aus welchem ihn ſein teufli- ſcher Geitz eben ſo wenig ſchreiten laͤßt, als ein Be- ſchwerer aus ſeinem Zauber-Crayſe treten darf: und er wuͤrde eben ſo wenig zulaſſen, daß ich dieſe Graͤntzen uͤbertraͤte. Solte ein ſolcher Menſch wol wiſſen, was Liebe iſt? Meines Grosvaters Gut mag er vielleicht lie- ben, welches (wie er andern Leuten geſagt hat) ihm ſo bequem lieget, daß er einige ſeiner Guͤter doppelt wuͤrde nutzen koͤnnen, wenn er es dazu haͤt- te. Er hat nicht einmal ſeinem Geitz ſo viel wi- derſtehen koͤnnen, daß er mir dieſes nicht mit der vergnuͤgten Mine ſolte zu verſtehen gegeben haben, die ein niedertraͤchtiges Hertz auf der Stirne zu mahlen pflegt, weñ es an ſeinen Eigennutz gedenkt, und den ſchon fuͤꝛ einen hinlaͤnglichen Bewegungs- Grund anſiehet, daß ihm andere ſeine Bitte ge- waͤhren ſollen. Dieſes Gut, und die Ehre die ein Z 3

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Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 1. Göttingen, 1748, S. 357. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa01_1748/377>, abgerufen am 17.05.2024.