Hierauf bat sie mich mit dem grössesten Ernst und Herablassung, ich möchte meinen Vater bey seiner Zurückkunft von meinem willigen Gehor- sam versichern, und das möchte ich sowohl um ihrent als um meinet willen thun.
Die Gütigkeit meiner Mutter gegen mich, und ihr Verlangen, daß ich wenigstens um ihrent- willen nachgeben möchte, rührte mich so sehr, und der Verdacht, daß die mir so eckelhafte Person mir deswegen nicht gefiele, weil ich zu einer andern ihnen verhaßten Person eine besondere Zuneigung hätte, war mir so empfindlich: daß ich wünsch- te, gehorsam seyn zu können. Jch hielt deswegen inn, ich bedachte mich, ich überlegte alles, und re- dete ziemlich lange nichts. Jch konnte es mei- ner Mutter an den Augen absehen, daß sie hoffete mein Stillschweigen würde sich mit einer vergnüg- lichern Antwort endigen. Als ich mich aber be- sann, daß alles auf Anstifften meines Bruders und meiner Schwester geschehe, die von Neid und Eigennutz besessen wären: daß ich nicht ver- dienet hätte, daß man mir so begegnete, als seit kurtzem geschehen ist: daß man schon in allen Ge- sellschafften von meinem Unglück rede: daß jeder- mann wüste, was ich für eine Abneigung gegen diesen Mann habe, und daß daher mein Nachge- ben weder den Meinigen noch mir Ehre bringen würde: daß es kein Zeichen des Gehorsams, son- dern eines knechtischen und niederträchtigen Ge- müths seyn würde, wenn man den Verlust zeitlichen Güter durch Verschertzung der wahren künftigen
Glück-
Die Geſchichte
Hierauf bat ſie mich mit dem groͤſſeſten Ernſt und Herablaſſung, ich moͤchte meinen Vater bey ſeiner Zuruͤckkunft von meinem willigen Gehor- ſam verſichern, und das moͤchte ich ſowohl um ihrent als um meinet willen thun.
Die Guͤtigkeit meiner Mutter gegen mich, und ihr Verlangen, daß ich wenigſtens um ihrent- willen nachgeben moͤchte, ruͤhrte mich ſo ſehr, und der Verdacht, daß die mir ſo eckelhafte Perſon mir deswegen nicht gefiele, weil ich zu einer andern ihnen verhaßten Perſon eine beſondere Zuneigung haͤtte, war mir ſo empfindlich: daß ich wuͤnſch- te, gehorſam ſeyn zu koͤnnen. Jch hielt deswegen inn, ich bedachte mich, ich uͤberlegte alles, und re- dete ziemlich lange nichts. Jch konnte es mei- ner Mutter an den Augen abſehen, daß ſie hoffete mein Stillſchweigen wuͤrde ſich mit einer vergnuͤg- lichern Antwort endigen. Als ich mich aber be- ſann, daß alles auf Anſtifften meines Bruders und meiner Schweſter geſchehe, die von Neid und Eigennutz beſeſſen waͤren: daß ich nicht ver- dienet haͤtte, daß man mir ſo begegnete, als ſeit kurtzem geſchehen iſt: daß man ſchon in allen Ge- ſellſchafften von meinem Ungluͤck rede: daß jeder- mann wuͤſte, was ich fuͤr eine Abneigung gegen dieſen Mann habe, und daß daher mein Nachge- ben weder den Meinigen noch mir Ehre bringen wuͤrde: daß es kein Zeichen des Gehorſams, ſon- dern eines knechtiſchen und niedertraͤchtigen Ge- muͤths ſeyn wuͤrde, weñ man den Verluſt zeitlichen Guͤter durch Verſchertzung der wahren kuͤnftigen
Gluͤck-
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Die Geſchichte
Hierauf bat ſie mich mit dem groͤſſeſten Ernſt
und Herablaſſung, ich moͤchte meinen Vater bey
ſeiner Zuruͤckkunft von meinem willigen Gehor-
ſam verſichern, und das moͤchte ich ſowohl um
ihrent als um meinet willen thun.
Die Guͤtigkeit meiner Mutter gegen mich, und
ihr Verlangen, daß ich wenigſtens um ihrent-
willen nachgeben moͤchte, ruͤhrte mich ſo ſehr, und
der Verdacht, daß die mir ſo eckelhafte Perſon
mir deswegen nicht gefiele, weil ich zu einer andern
ihnen verhaßten Perſon eine beſondere Zuneigung
haͤtte, war mir ſo empfindlich: daß ich wuͤnſch-
te, gehorſam ſeyn zu koͤnnen. Jch hielt deswegen
inn, ich bedachte mich, ich uͤberlegte alles, und re-
dete ziemlich lange nichts. Jch konnte es mei-
ner Mutter an den Augen abſehen, daß ſie hoffete
mein Stillſchweigen wuͤrde ſich mit einer vergnuͤg-
lichern Antwort endigen. Als ich mich aber be-
ſann, daß alles auf Anſtifften meines Bruders
und meiner Schweſter geſchehe, die von Neid
und Eigennutz beſeſſen waͤren: daß ich nicht ver-
dienet haͤtte, daß man mir ſo begegnete, als ſeit
kurtzem geſchehen iſt: daß man ſchon in allen Ge-
ſellſchafften von meinem Ungluͤck rede: daß jeder-
mann wuͤſte, was ich fuͤr eine Abneigung gegen
dieſen Mann habe, und daß daher mein Nachge-
ben weder den Meinigen noch mir Ehre bringen
wuͤrde: daß es kein Zeichen des Gehorſams, ſon-
dern eines knechtiſchen und niedertraͤchtigen Ge-
muͤths ſeyn wuͤrde, weñ man den Verluſt zeitlichen
Guͤter durch Verſchertzung der wahren kuͤnftigen
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 1. Göttingen, 1748, S. 226. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa01_1748/246>, abgerufen am 23.11.2024.
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