Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 1. Göttingen, 1748.

Bild:
<< vorherige Seite

der Clarissa.
"nichts gebunden ist, nach dem äusserlichen
"Ansehen?"

"Soll denn aber mein Auge gleich durch das
"erste Ansehen beleidiget werden, um mein Hertz
"zu gewinnen? können Sie darauf dencken, daß
"ich einen heyrathen soll, bey dessen Anblick sich
"gleich das Herz im Leibe vor Eckel umkehren muß,
"sonderlich wenn eine jede Unterredung mit ihm
"mich darin bekräftiget, daß mein Eckel gerecht sey?

"Das sind nur vorgefaßte Meynungen, Clär-
"chen.
Laß mich nicht so weit getrieben wer-
"den, daß ich die edle Standhaftigkeit bey dir
"für einen Fehler ansehen muß, die ich sonst für
"deine Ehre hielt, und darauf ich mir mit mei-
"ner Tochter recht viel einbildete. Jn diesem
"Fall wüste ich es nicht anders als Hartnäckigkeit
"und Ungehorsam zu nennen. Hast du nicht ge-
"gen etliche allerhand Einwendungen gemacht - -

"Die Einwendungen gingen auf ihr Gemüth,
"oder auf ihre Begriffe von der Religion. Aber
"dieser Mann - -

"Jst ein ehrlicher Mann, Clärchen. Er
"hat ein gut Gemüth. Er ist ein tugendhafter
"Mann."

"Er soll ein ehrlicher Mann seyn? Sein Ge-
"müth gut? Er ein tugendhafter Mann?"

"Niemand hat ihm diesen Ruhm je abgeleug-
"net."

"Kan das ein ehrlicher Mann seyn, der an
"allen seinen Anverwanten zum Räuber werden,
"und ihnen ihre gerechte Anwardtschaften entzie-

"hen
L 5

der Clariſſa.
„nichts gebunden iſt, nach dem aͤuſſerlichen
„Anſehen?„

„Soll denn aber mein Auge gleich durch das
„erſte Anſehen beleidiget werden, um mein Hertz
„zu gewinnen? koͤnnen Sie darauf dencken, daß
„ich einen heyrathen ſoll, bey deſſen Anblick ſich
„gleich das Herz im Leibe vor Eckel umkehren muß,
„ſonderlich wenn eine jede Unterredung mit ihm
„mich daꝛin bekꝛaͤftiget, daß mein Eckel geꝛecht ſey?

„Das ſind nur vorgefaßte Meynungen, Claͤr-
„chen.
Laß mich nicht ſo weit getrieben wer-
„den, daß ich die edle Standhaftigkeit bey dir
„fuͤr einen Fehler anſehen muß, die ich ſonſt fuͤr
„deine Ehre hielt, und darauf ich mir mit mei-
„ner Tochter recht viel einbildete. Jn dieſem
„Fall wuͤſte ich es nicht anders als Hartnaͤckigkeit
„und Ungehorſam zu nennen. Haſt du nicht ge-
„gen etliche allerhand Einwendungen gemacht ‒ ‒

„Die Einwendungen gingen auf ihr Gemuͤth,
„oder auf ihre Begriffe von der Religion. Aber
„dieſer Mann ‒ ‒

„Jſt ein ehrlicher Mann, Claͤrchen. Er
„hat ein gut Gemuͤth. Er iſt ein tugendhafter
„Mann.„

„Er ſoll ein ehrlicher Mann ſeyn? Sein Ge-
„muͤth gut? Er ein tugendhafter Mann?„

„Niemand hat ihm dieſen Ruhm je abgeleug-
„net.„

„Kan das ein ehrlicher Mann ſeyn, der an
„allen ſeinen Anverwanten zum Raͤuber werden,
„und ihnen ihre gerechte Anwardtſchaften entzie-

„hen
L 5
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="2">
        <p><pb facs="#f0189" n="169"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#g">der Clari&#x017F;&#x017F;a.</hi></hi></fw><lb/>
&#x201E;nichts gebunden i&#x017F;t, nach dem a&#x0364;u&#x017F;&#x017F;erlichen<lb/>
&#x201E;An&#x017F;ehen?&#x201E;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Soll denn aber mein Auge gleich durch das<lb/>
&#x201E;er&#x017F;te An&#x017F;ehen beleidiget werden, um mein Hertz<lb/>
&#x201E;zu gewinnen? ko&#x0364;nnen Sie darauf dencken, daß<lb/>
&#x201E;ich einen heyrathen &#x017F;oll, bey de&#x017F;&#x017F;en Anblick &#x017F;ich<lb/>
&#x201E;gleich das Herz im Leibe vor Eckel umkehren muß,<lb/>
&#x201E;&#x017F;onderlich wenn eine jede Unterredung mit ihm<lb/>
&#x201E;mich da&#xA75B;in bek&#xA75B;a&#x0364;ftiget, daß mein Eckel ge&#xA75B;echt &#x017F;ey?</p><lb/>
        <p>&#x201E;Das &#x017F;ind nur vorgefaßte Meynungen, <hi rendition="#fr">Cla&#x0364;r-<lb/>
&#x201E;chen.</hi> Laß mich nicht &#x017F;o weit getrieben wer-<lb/>
&#x201E;den, daß ich die edle Standhaftigkeit bey dir<lb/>
&#x201E;fu&#x0364;r einen Fehler an&#x017F;ehen muß, die ich &#x017F;on&#x017F;t fu&#x0364;r<lb/>
&#x201E;deine Ehre hielt, und darauf ich mir mit mei-<lb/>
&#x201E;ner Tochter recht viel einbildete. Jn die&#x017F;em<lb/>
&#x201E;Fall wu&#x0364;&#x017F;te ich es nicht anders als Hartna&#x0364;ckigkeit<lb/>
&#x201E;und Ungehor&#x017F;am zu nennen. Ha&#x017F;t du nicht ge-<lb/>
&#x201E;gen etliche allerhand Einwendungen gemacht &#x2012; &#x2012;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Die Einwendungen gingen auf ihr Gemu&#x0364;th,<lb/>
&#x201E;oder auf ihre Begriffe von der Religion. Aber<lb/>
&#x201E;die&#x017F;er Mann &#x2012; &#x2012;</p><lb/>
        <p>&#x201E;J&#x017F;t ein ehrlicher Mann, <hi rendition="#fr">Cla&#x0364;rchen.</hi> Er<lb/>
&#x201E;hat ein gut Gemu&#x0364;th. Er i&#x017F;t ein tugendhafter<lb/>
&#x201E;Mann.&#x201E;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Er &#x017F;oll ein ehrlicher Mann &#x017F;eyn? Sein Ge-<lb/>
&#x201E;mu&#x0364;th gut? Er ein tugendhafter Mann?&#x201E;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Niemand hat ihm die&#x017F;en Ruhm je abgeleug-<lb/>
&#x201E;net.&#x201E;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Kan das ein ehrlicher Mann &#x017F;eyn, der an<lb/>
&#x201E;allen &#x017F;einen Anverwanten zum Ra&#x0364;uber werden,<lb/>
&#x201E;und ihnen ihre gerechte Anwardt&#x017F;chaften entzie-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">L 5</fw><fw place="bottom" type="catch">&#x201E;hen</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[169/0189] der Clariſſa. „nichts gebunden iſt, nach dem aͤuſſerlichen „Anſehen?„ „Soll denn aber mein Auge gleich durch das „erſte Anſehen beleidiget werden, um mein Hertz „zu gewinnen? koͤnnen Sie darauf dencken, daß „ich einen heyrathen ſoll, bey deſſen Anblick ſich „gleich das Herz im Leibe vor Eckel umkehren muß, „ſonderlich wenn eine jede Unterredung mit ihm „mich daꝛin bekꝛaͤftiget, daß mein Eckel geꝛecht ſey? „Das ſind nur vorgefaßte Meynungen, Claͤr- „chen. Laß mich nicht ſo weit getrieben wer- „den, daß ich die edle Standhaftigkeit bey dir „fuͤr einen Fehler anſehen muß, die ich ſonſt fuͤr „deine Ehre hielt, und darauf ich mir mit mei- „ner Tochter recht viel einbildete. Jn dieſem „Fall wuͤſte ich es nicht anders als Hartnaͤckigkeit „und Ungehorſam zu nennen. Haſt du nicht ge- „gen etliche allerhand Einwendungen gemacht ‒ ‒ „Die Einwendungen gingen auf ihr Gemuͤth, „oder auf ihre Begriffe von der Religion. Aber „dieſer Mann ‒ ‒ „Jſt ein ehrlicher Mann, Claͤrchen. Er „hat ein gut Gemuͤth. Er iſt ein tugendhafter „Mann.„ „Er ſoll ein ehrlicher Mann ſeyn? Sein Ge- „muͤth gut? Er ein tugendhafter Mann?„ „Niemand hat ihm dieſen Ruhm je abgeleug- „net.„ „Kan das ein ehrlicher Mann ſeyn, der an „allen ſeinen Anverwanten zum Raͤuber werden, „und ihnen ihre gerechte Anwardtſchaften entzie- „hen L 5

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa01_1748
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa01_1748/189
Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 1. Göttingen, 1748, S. 169. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa01_1748/189>, abgerufen am 02.05.2024.