Sie sagte: "Fräulein Clarissa Harlowe ist "ein Frauenzimmer das wenig seines gleichen hat. "Ein jeder Besuch von ihr ist in der That eine "Wohlthat: und man wird recht misvergnügt "wenn sie Abschied nimt." Jch bekam auch das meinige: denn sie setzte hinzu: "O meine Toch- "ter, wenn du nur etwas von ihrem gefälligen "Wesen hättest!"
Doch das kränckt mich nicht: denn Sie wurden gelobet. Jch halte Sie für mich selbst, und ich kitzel- te mich an Jhrem Lobe. Soll ich die Wahrheit schreiben, so freuete ich mich desto mehr über dieses Lob, weil ich glaubte, ich wäre in Ermangelung Jhrer lobenswürdigen Eigenschaften doch nicht unglücklicher als Sie. Denn hätte ich zwantzig solche Brüder, und zwantzig solche Schwestern, als Sie haben, so würde sich keiner von ihnen, ja sie alle zusammen genommen nicht unterstehen, so mit mir umzugehen, als Jhr eintziger Bruder und Jh- re eintzige Schwester mit Jhnen umgehet. Wer viel leiden kan, wird viel zu leiden haben: so ist es überall in der Welt: und es ist dieses ihr eigner Satz, den Sie an einem sehr merckwürdigen Beyspiel in Jhrem eigenen Hause bemerckt und ge- lernt, und dennoch bisher wenig angewandt haben.
Jch mache aus allem den Schluß: daß ich mich besser in Diese Welt schicke als Sie, und Sie sich besser in die zukünftige schicken als ich. Daß ist der Unterschied zwischen uns. Allein um meinet- willen, und um hundert anderer willen, wünsche ich, daß es lange, sehr lange währen mag, ehe
sie
der Clariſſa.
Sie ſagte: „Fraͤulein Clariſſa Harlowe iſt „ein Frauenzimmer das wenig ſeines gleichen hat. „Ein jeder Beſuch von ihr iſt in der That eine „Wohlthat: und man wird recht misvergnuͤgt „wenn ſie Abſchied nimt.„ Jch bekam auch das meinige: denn ſie ſetzte hinzu: „O meine Toch- „ter, wenn du nur etwas von ihrem gefaͤlligen „Weſen haͤtteſt!„
Doch das kraͤnckt mich nicht: denn Sie wurden gelobet. Jch halte Sie fuͤr mich ſelbſt, und ich kitzel- te mich an Jhrem Lobe. Soll ich die Wahrheit ſchreiben, ſo freuete ich mich deſto mehr uͤber dieſes Lob, weil ich glaubte, ich waͤre in Ermangelung Jhrer lobenswuͤrdigen Eigenſchaften doch nicht ungluͤcklicher als Sie. Denn haͤtte ich zwantzig ſolche Bruͤder, und zwantzig ſolche Schweſtern, als Sie haben, ſo wuͤrde ſich keiner von ihnen, ja ſie alle zuſammen genommen nicht unterſtehen, ſo mit mir umzugehen, als Jhr eintziger Bruder und Jh- re eintzige Schweſter mit Jhnen umgehet. Wer viel leiden kan, wird viel zu leiden haben: ſo iſt es uͤberall in der Welt: und es iſt dieſes ihr eigner Satz, den Sie an einem ſehr merckwuͤrdigen Beyſpiel in Jhrem eigenen Hauſe bemerckt und ge- lernt, und dennoch bisher wenig angewandt haben.
Jch mache aus allem den Schluß: daß ich mich beſſer in Dieſe Welt ſchicke als Sie, und Sie ſich beſſer in die zukuͤnftige ſchicken als ich. Daß iſt der Unterſchied zwiſchen uns. Allein um meinet- willen, und um hundert anderer willen, wuͤnſche ich, daß es lange, ſehr lange waͤhren mag, ehe
ſie
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der Clariſſa.
Sie ſagte: „Fraͤulein Clariſſa Harlowe iſt
„ein Frauenzimmer das wenig ſeines gleichen hat.
„Ein jeder Beſuch von ihr iſt in der That eine
„Wohlthat: und man wird recht misvergnuͤgt
„wenn ſie Abſchied nimt.„ Jch bekam auch das
meinige: denn ſie ſetzte hinzu: „O meine Toch-
„ter, wenn du nur etwas von ihrem gefaͤlligen
„Weſen haͤtteſt!„
Doch das kraͤnckt mich nicht: denn Sie wurden
gelobet. Jch halte Sie fuͤr mich ſelbſt, und ich kitzel-
te mich an Jhrem Lobe. Soll ich die Wahrheit
ſchreiben, ſo freuete ich mich deſto mehr uͤber dieſes
Lob, weil ich glaubte, ich waͤre in Ermangelung
Jhrer lobenswuͤrdigen Eigenſchaften doch nicht
ungluͤcklicher als Sie. Denn haͤtte ich zwantzig
ſolche Bruͤder, und zwantzig ſolche Schweſtern,
als Sie haben, ſo wuͤrde ſich keiner von ihnen, ja ſie
alle zuſammen genommen nicht unterſtehen, ſo mit
mir umzugehen, als Jhr eintziger Bruder und Jh-
re eintzige Schweſter mit Jhnen umgehet. Wer
viel leiden kan, wird viel zu leiden haben: ſo iſt es
uͤberall in der Welt: und es iſt dieſes ihr eigner
Satz, den Sie an einem ſehr merckwuͤrdigen
Beyſpiel in Jhrem eigenen Hauſe bemerckt und ge-
lernt, und dennoch bisher wenig angewandt haben.
Jch mache aus allem den Schluß: daß ich mich
beſſer in Dieſe Welt ſchicke als Sie, und Sie ſich
beſſer in die zukuͤnftige ſchicken als ich. Daß iſt
der Unterſchied zwiſchen uns. Allein um meinet-
willen, und um hundert anderer willen, wuͤnſche
ich, daß es lange, ſehr lange waͤhren mag, ehe
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 1. Göttingen, 1748, S. 95. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa01_1748/115>, abgerufen am 23.11.2024.
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