Bey diesen unvermutheten Worten warf Victo- rin sich zu ihren Füssen, ergriff eine von ihren Hän- den, die sie ihm überließ und überdeckte sie mit feu- rigen Küßen.
Stehn sie auf, rief sie endlich aus, sie sind hier mein einziger Trost: Ach! was würde ohne meinen lieben Victorin aus mir geworden seyn?"
"O Madam, wie durchdringt mich so viel Gü- te!. ... und warum kann ich nicht ... Aber es ist unmöglich von diesem Berge zu entkommen. Alle Macht des Königs in Frankreich und eine Mühe von vierzig Jahren würden uns nicht davon helfen: wollt' ich sie gleich durch Hülfe einer so zerbrechlichen Maschine, als meine Flügel sind, wegführen, so würden wir Gefahr laufen, beyde wider einen Fel- sen zu zerschmettern ... Ach Madam! wie werden unsre schönen Tage verfließen!" ...
"Jch bedaure nur die ihrigen."
"Und ich Madam, blos sie" ... Bey diesen Worten verschlang Victorin beynah Christinens Hän- de, die auch nicht die mindeste Bewegung sie zurück zu ziehn machte. Sie war zwar die Tochter eines Edelmanns und Victorin blos der Sohn eines Fiscal- procurators; aber er war König des unbesteiglichen Berges, und Christine sahe wohl, daß, ob man gleich nur ihren Befehlen gehorchte, doch alles durch ihn gieng. Endlich wichen Hochmuth und Vorurtheile der Geburt nach und nach, weil niemand hier sie un- terstützte, dem zarten Gefühl, welches Victorin ihr
täg-
Bey dieſen unvermutheten Worten warf Victo- rin ſich zu ihren Fuͤſſen, ergriff eine von ihren Haͤn- den, die ſie ihm uͤberließ und uͤberdeckte ſie mit feu- rigen Kuͤßen.
Stehn ſie auf, rief ſie endlich aus, ſie ſind hier mein einziger Troſt: Ach! was wuͤrde ohne meinen lieben Victorin aus mir geworden ſeyn?‟
„O Madam, wie durchdringt mich ſo viel Guͤ- te!. … und warum kann ich nicht … Aber es iſt unmoͤglich von dieſem Berge zu entkommen. Alle Macht des Koͤnigs in Frankreich und eine Muͤhe von vierzig Jahren wuͤrden uns nicht davon helfen: wollt’ ich ſie gleich durch Huͤlfe einer ſo zerbrechlichen Maſchine, als meine Fluͤgel ſind, wegfuͤhren, ſo wuͤrden wir Gefahr laufen, beyde wider einen Fel- ſen zu zerſchmettern … Ach Madam! wie werden unſre ſchoͤnen Tage verfließen!‟ …
„Jch bedaure nur die ihrigen.‟
„Und ich Madam, blos ſie‟ … Bey dieſen Worten verſchlang Victorin beynah Chriſtinens Haͤn- de, die auch nicht die mindeſte Bewegung ſie zuruͤck zu ziehn machte. Sie war zwar die Tochter eines Edelmanns und Victorin blos der Sohn eines Fiſcal- procurators; aber er war Koͤnig des unbeſteiglichen Berges, und Chriſtine ſahe wohl, daß, ob man gleich nur ihren Befehlen gehorchte, doch alles durch ihn gieng. Endlich wichen Hochmuth und Vorurtheile der Geburt nach und nach, weil niemand hier ſie un- terſtuͤtzte, dem zarten Gefuͤhl, welches Victorin ihr
taͤg-
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Bey dieſen unvermutheten Worten warf Victo-
rin ſich zu ihren Fuͤſſen, ergriff eine von ihren Haͤn-
den, die ſie ihm uͤberließ und uͤberdeckte ſie mit feu-
rigen Kuͤßen.
Stehn ſie auf, rief ſie endlich aus, ſie ſind
hier mein einziger Troſt: Ach! was wuͤrde ohne
meinen lieben Victorin aus mir geworden ſeyn?‟
„O Madam, wie durchdringt mich ſo viel Guͤ-
te!. … und warum kann ich nicht … Aber
es iſt unmoͤglich von dieſem Berge zu entkommen.
Alle Macht des Koͤnigs in Frankreich und eine Muͤhe
von vierzig Jahren wuͤrden uns nicht davon helfen:
wollt’ ich ſie gleich durch Huͤlfe einer ſo zerbrechlichen
Maſchine, als meine Fluͤgel ſind, wegfuͤhren, ſo
wuͤrden wir Gefahr laufen, beyde wider einen Fel-
ſen zu zerſchmettern … Ach Madam! wie werden
unſre ſchoͤnen Tage verfließen!‟ …
„Jch bedaure nur die ihrigen.‟
„Und ich Madam, blos ſie‟ … Bey dieſen
Worten verſchlang Victorin beynah Chriſtinens Haͤn-
de, die auch nicht die mindeſte Bewegung ſie zuruͤck
zu ziehn machte. Sie war zwar die Tochter eines
Edelmanns und Victorin blos der Sohn eines Fiſcal-
procurators; aber er war Koͤnig des unbeſteiglichen
Berges, und Chriſtine ſahe wohl, daß, ob man gleich
nur ihren Befehlen gehorchte, doch alles durch ihn
gieng. Endlich wichen Hochmuth und Vorurtheile
der Geburt nach und nach, weil niemand hier ſie un-
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Rétif de La Bretonne, Nicolas-Edme: Der fliegende Mensch. Übers. v. Wilhelm Christhelf Siegmund Mylius. 2. Aufl. Dresden u. a., 1785, S. 68. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/retif_mensch_1785/76>, abgerufen am 27.11.2024.
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