derholt, auf alle mögliche Arten abgeschrieben und verunstaltet. Victorin mußte in geheim herzlich darüber lachen, und schloß daraus, wie viel man sich auf das Gerüchte des Pöbels verlassen könnte. Er gieng den nämlichen Tag aufs Schloß, begab sich, als er hörte, daß Mamsell Christine im Gar- ten sey, dahin, und suchte ohne Verzug eine beque- me Gelegenheit von ihr gesehen zu werden.
Sobald sie ihn erblickte, winkte sie ihn zu sich -- "Haben sie auch den Großvogel gesehen?"
Ja Mamsell, und ich versichere sie, besser als ihn jemand gesehen hat.
"Doch nicht besser als mein Papa und ich? denn wir haben ihn gesehen, wie ich sie da sehe."
"Jch will ihnen nicht widersprechen, Mamsell, aber ich hab' ihn sehr gut gesehen, und seinen Ge- sang sehr gut verstanden; ich habe mir ihn gemerkt, und eine Abschrift davon gemacht."
Zeigen sie einmal, sprach Christine, ich will daraus sehen, ob sie ihn recht gemerkt haben; denn unter dreyßig Personen, die mir ihn diesen Morgen haben vorsagen wollen, ist nicht eine, die ihn recht trifft.
Christine nahm den Gesang aus den Händen das Victorin, und las ihn mit Staunen.
"Dies hat seine Richtigkeit, sagte sie, und ver- färbte sich ein wenig, aber wo waren sie denn?"
Jch
derholt, auf alle moͤgliche Arten abgeſchrieben und verunſtaltet. Victorin mußte in geheim herzlich daruͤber lachen, und ſchloß daraus, wie viel man ſich auf das Geruͤchte des Poͤbels verlaſſen koͤnnte. Er gieng den naͤmlichen Tag aufs Schloß, begab ſich, als er hoͤrte, daß Mamſell Chriſtine im Gar- ten ſey, dahin, und ſuchte ohne Verzug eine beque- me Gelegenheit von ihr geſehen zu werden.
Sobald ſie ihn erblickte, winkte ſie ihn zu ſich — „Haben ſie auch den Großvogel geſehen?‟
Ja Mamſell, und ich verſichere ſie, beſſer als ihn jemand geſehen hat.
„Doch nicht beſſer als mein Papa und ich? denn wir haben ihn geſehen, wie ich ſie da ſehe.‟
„Jch will ihnen nicht widerſprechen, Mamſell, aber ich hab’ ihn ſehr gut geſehen, und ſeinen Ge- ſang ſehr gut verſtanden; ich habe mir ihn gemerkt, und eine Abſchrift davon gemacht.‟
Zeigen ſie einmal, ſprach Chriſtine, ich will daraus ſehen, ob ſie ihn recht gemerkt haben; denn unter dreyßig Perſonen, die mir ihn dieſen Morgen haben vorſagen wollen, iſt nicht eine, die ihn recht trifft.
Chriſtine nahm den Geſang aus den Haͤnden das Victorin, und las ihn mit Staunen.
„Dies hat ſeine Richtigkeit, ſagte ſie, und ver- faͤrbte ſich ein wenig, aber wo waren ſie denn?‟
Jch
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derholt, auf alle moͤgliche Arten abgeſchrieben und
verunſtaltet. Victorin mußte in geheim herzlich
daruͤber lachen, und ſchloß daraus, wie viel man
ſich auf das Geruͤchte des Poͤbels verlaſſen koͤnnte.
Er gieng den naͤmlichen Tag aufs Schloß, begab
ſich, als er hoͤrte, daß Mamſell Chriſtine im Gar-
ten ſey, dahin, und ſuchte ohne Verzug eine beque-
me Gelegenheit von ihr geſehen zu werden.
Sobald ſie ihn erblickte, winkte ſie ihn zu ſich —
„Haben ſie auch den Großvogel geſehen?‟
Ja Mamſell, und ich verſichere ſie, beſſer als
ihn jemand geſehen hat.
„Doch nicht beſſer als mein Papa und ich?
denn wir haben ihn geſehen, wie ich ſie da ſehe.‟
„Jch will ihnen nicht widerſprechen, Mamſell,
aber ich hab’ ihn ſehr gut geſehen, und ſeinen Ge-
ſang ſehr gut verſtanden; ich habe mir ihn gemerkt,
und eine Abſchrift davon gemacht.‟
Zeigen ſie einmal, ſprach Chriſtine, ich will
daraus ſehen, ob ſie ihn recht gemerkt haben; denn
unter dreyßig Perſonen, die mir ihn dieſen Morgen
haben vorſagen wollen, iſt nicht eine, die ihn
recht trifft.
Chriſtine nahm den Geſang aus den Haͤnden
das Victorin, und las ihn mit Staunen.
„Dies hat ſeine Richtigkeit, ſagte ſie, und ver-
faͤrbte ſich ein wenig, aber wo waren ſie denn?‟
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Rétif de La Bretonne, Nicolas-Edme: Der fliegende Mensch. Übers. v. Wilhelm Christhelf Siegmund Mylius. 2. Aufl. Dresden u. a., 1785, S. 28. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/retif_mensch_1785/36>, abgerufen am 16.02.2025.
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