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Rétif de La Bretonne, Nicolas-Edme: Der fliegende Mensch. Übers. v. Wilhelm Christhelf Siegmund Mylius. 2. Aufl. Dresden u. a., 1785.

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Noch muß ich euch ein schreckliches Ereignis er-
zählen, das sich vor ungefähr fünf Jahren auf
dieser Jnsel zutrug, denn ich zähle die Jahre ge-
nau nach einem Winter und einem Sommer. Der
Winter ist hier zu Lande sehr heftig. Darum
samlen wir ietzt unsere Lebensmittel ein; denn aus-
ser der Frau des Moritz kan ungefähr ein acht Mo-
nat lang kein Mensch einen Fuß aus der Höhle se-
tzen. Nur etwa ein vier bis fünf Monden haben
wir frei und genüssen so einer halben Wärme wie
die gegenwärtige. Vor etlichen Jahren hatten wir
einen ausserordentlich kalten Winter. Zu dieser
fürchterlichen Zeit, fanden sich die Meerwiesel
zum erstenmale hier ein; vermuthlich weil von ih-
rem eigentlichen Aufenthalte an, bis hieher alles
gefroren war. Diese grausamen Thiere verwüste-
ten alles und frassen die Bockmenschen. Oft ver-
nahmen wir vor der Thür unsrer Höhle ein durch-
dringendes Geschrei; aber niemand von uns konte
gehn und sie öfnen. Um nicht zu erfrieren, kon-
ten wir nicht anders Wärme genug erhalten, als
wenn wir dicht an einander auf Fellen lagen. Die
Ziegen-Frau allein konte aufstehn, thaute nur Was-
ser auf, und bereitete unsere Nahrung.

Endlich erschien der Sommer wieder: aber
wie groß war unser Erstaunen, als wir keine
Bockmenschen mehr sahen, noch irgend eins von
den kleinen Thieren! Alles war verschwunden,
auch sogar das Gevögel: dafür sahen wir eine
Menge Meerwiesel, die uns anfielen. Da wir

mit
O 5


Noch muß ich euch ein ſchreckliches Ereignis er-
zaͤhlen, das ſich vor ungefaͤhr fuͤnf Jahren auf
dieſer Jnſel zutrug, denn ich zaͤhle die Jahre ge-
nau nach einem Winter und einem Sommer. Der
Winter iſt hier zu Lande ſehr heftig. Darum
ſamlen wir ietzt unſere Lebensmittel ein; denn auſ-
ſer der Frau des Moritz kan ungefaͤhr ein acht Mo-
nat lang kein Menſch einen Fuß aus der Hoͤhle ſe-
tzen. Nur etwa ein vier bis fuͤnf Monden haben
wir frei und genuͤſſen ſo einer halben Waͤrme wie
die gegenwaͤrtige. Vor etlichen Jahren hatten wir
einen auſſerordentlich kalten Winter. Zu dieſer
fuͤrchterlichen Zeit, fanden ſich die Meerwieſel
zum erſtenmale hier ein; vermuthlich weil von ih-
rem eigentlichen Aufenthalte an, bis hieher alles
gefroren war. Dieſe grauſamen Thiere verwuͤſte-
ten alles und fraſſen die Bockmenſchen. Oft ver-
nahmen wir vor der Thuͤr unſrer Hoͤhle ein durch-
dringendes Geſchrei; aber niemand von uns konte
gehn und ſie oͤfnen. Um nicht zu erfrieren, kon-
ten wir nicht anders Waͤrme genug erhalten, als
wenn wir dicht an einander auf Fellen lagen. Die
Ziegen-Frau allein konte aufſtehn, thaute nur Waſ-
ſer auf, und bereitete unſere Nahrung.

Endlich erſchien der Sommer wieder: aber
wie groß war unſer Erſtaunen, als wir keine
Bockmenſchen mehr ſahen, noch irgend eins von
den kleinen Thieren! Alles war verſchwunden,
auch ſogar das Gevoͤgel: dafuͤr ſahen wir eine
Menge Meerwieſel, die uns anfielen. Da wir

mit
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[217/0225] Noch muß ich euch ein ſchreckliches Ereignis er- zaͤhlen, das ſich vor ungefaͤhr fuͤnf Jahren auf dieſer Jnſel zutrug, denn ich zaͤhle die Jahre ge- nau nach einem Winter und einem Sommer. Der Winter iſt hier zu Lande ſehr heftig. Darum ſamlen wir ietzt unſere Lebensmittel ein; denn auſ- ſer der Frau des Moritz kan ungefaͤhr ein acht Mo- nat lang kein Menſch einen Fuß aus der Hoͤhle ſe- tzen. Nur etwa ein vier bis fuͤnf Monden haben wir frei und genuͤſſen ſo einer halben Waͤrme wie die gegenwaͤrtige. Vor etlichen Jahren hatten wir einen auſſerordentlich kalten Winter. Zu dieſer fuͤrchterlichen Zeit, fanden ſich die Meerwieſel zum erſtenmale hier ein; vermuthlich weil von ih- rem eigentlichen Aufenthalte an, bis hieher alles gefroren war. Dieſe grauſamen Thiere verwuͤſte- ten alles und fraſſen die Bockmenſchen. Oft ver- nahmen wir vor der Thuͤr unſrer Hoͤhle ein durch- dringendes Geſchrei; aber niemand von uns konte gehn und ſie oͤfnen. Um nicht zu erfrieren, kon- ten wir nicht anders Waͤrme genug erhalten, als wenn wir dicht an einander auf Fellen lagen. Die Ziegen-Frau allein konte aufſtehn, thaute nur Waſ- ſer auf, und bereitete unſere Nahrung. Endlich erſchien der Sommer wieder: aber wie groß war unſer Erſtaunen, als wir keine Bockmenſchen mehr ſahen, noch irgend eins von den kleinen Thieren! Alles war verſchwunden, auch ſogar das Gevoͤgel: dafuͤr ſahen wir eine Menge Meerwieſel, die uns anfielen. Da wir mit O 5

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Zitationshilfe: Rétif de La Bretonne, Nicolas-Edme: Der fliegende Mensch. Übers. v. Wilhelm Christhelf Siegmund Mylius. 2. Aufl. Dresden u. a., 1785, S. 217. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/retif_mensch_1785/225>, abgerufen am 07.05.2024.