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Rétif de La Bretonne, Nicolas-Edme: Der fliegende Mensch. Übers. v. Wilhelm Christhelf Siegmund Mylius. 2. Aufl. Dresden u. a., 1785.

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Die Hochzeitfeier war prächtig, iedoch ungekün-
stelt. Der Alte im eigentlichsten Verstande, ein
Mann von hundert und sechzig Jahren -- denn die-
se Riesen leben länger als unser Geschlecht -- gab
die beiden Verlobten zusammen und that folgende
Fragen an sie, auf deren Beantwortung sie schon
vorbereitet waren.

Der alte Patagonier. Weshalb erscheint
ihr vor mir?

Antwort. "Um uns durch das Band der Ehe
zu verknüpfen."

Warum ehelicht ihr einander?

"Weil Liebe in unsere Herzen gesprochen hat."

Was sagte sie?

"Verbindet euch um Wonne kennen zu lernen."

Jhr habt also ein Verlangen darnach?

"Ja, ehrwürdiger Alter; das Vergnügen ist
die vollkommenste Entwickelung von dem Dasein ie-
des lebenden Wesens."

Wünscht ihr, ein unfruchtbares oder fruchtbares
Vergnügen?

"Ein fruchtbares, denn das unfruchtbare ist
kein wahres Vergnügen."

Was soll euer Vergnügen hervorbringen?

"Das Meisterstück der Natur, den Menschen."

Bedenkts wohl, meine Kinder: Nichts ist heili-
ger als das Vergnügen der Ehe, der Keim der Men-

schen.


Die Hochzeitfeier war praͤchtig, iedoch ungekuͤn-
ſtelt. Der Alte im eigentlichſten Verſtande, ein
Mann von hundert und ſechzig Jahren — denn die-
ſe Rieſen leben laͤnger als unſer Geſchlecht — gab
die beiden Verlobten zuſammen und that folgende
Fragen an ſie, auf deren Beantwortung ſie ſchon
vorbereitet waren.

Der alte Patagonier. Weshalb erſcheint
ihr vor mir?

Antwort. „Um uns durch das Band der Ehe
zu verknuͤpfen.‟

Warum ehelicht ihr einander?

„Weil Liebe in unſere Herzen geſprochen hat.‟

Was ſagte ſie?

„Verbindet euch um Wonne kennen zu lernen.‟

Jhr habt alſo ein Verlangen darnach?

„Ja, ehrwuͤrdiger Alter; das Vergnuͤgen iſt
die vollkommenſte Entwickelung von dem Daſein ie-
des lebenden Weſens.‟

Wuͤnſcht ihr, ein unfruchtbares oder fruchtbares
Vergnuͤgen?

„Ein fruchtbares, denn das unfruchtbare iſt
kein wahres Vergnuͤgen.‟

Was ſoll euer Vergnuͤgen hervorbringen?

„Das Meiſterſtuͤck der Natur, den Menſchen.‟

Bedenkts wohl, meine Kinder: Nichts iſt heili-
ger als das Vergnuͤgen der Ehe, der Keim der Men-

ſchen.
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[157/0165] Die Hochzeitfeier war praͤchtig, iedoch ungekuͤn- ſtelt. Der Alte im eigentlichſten Verſtande, ein Mann von hundert und ſechzig Jahren — denn die- ſe Rieſen leben laͤnger als unſer Geſchlecht — gab die beiden Verlobten zuſammen und that folgende Fragen an ſie, auf deren Beantwortung ſie ſchon vorbereitet waren. Der alte Patagonier. Weshalb erſcheint ihr vor mir? Antwort. „Um uns durch das Band der Ehe zu verknuͤpfen.‟ Warum ehelicht ihr einander? „Weil Liebe in unſere Herzen geſprochen hat.‟ Was ſagte ſie? „Verbindet euch um Wonne kennen zu lernen.‟ Jhr habt alſo ein Verlangen darnach? „Ja, ehrwuͤrdiger Alter; das Vergnuͤgen iſt die vollkommenſte Entwickelung von dem Daſein ie- des lebenden Weſens.‟ Wuͤnſcht ihr, ein unfruchtbares oder fruchtbares Vergnuͤgen? „Ein fruchtbares, denn das unfruchtbare iſt kein wahres Vergnuͤgen.‟ Was ſoll euer Vergnuͤgen hervorbringen? „Das Meiſterſtuͤck der Natur, den Menſchen.‟ Bedenkts wohl, meine Kinder: Nichts iſt heili- ger als das Vergnuͤgen der Ehe, der Keim der Men- ſchen.

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Zitationshilfe: Rétif de La Bretonne, Nicolas-Edme: Der fliegende Mensch. Übers. v. Wilhelm Christhelf Siegmund Mylius. 2. Aufl. Dresden u. a., 1785, S. 157. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/retif_mensch_1785/165>, abgerufen am 03.05.2024.