Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Rétif de La Bretonne, Nicolas-Edme: Der fliegende Mensch. Übers. v. Wilhelm Christhelf Siegmund Mylius. 2. Aufl. Dresden u. a., 1785.

Bild:
<< vorherige Seite



zu bringen, wie Ovid erzählt; Euristheus Vater im
Gegentheil war ein gemeiner Mensch, Amphitrion
genannt; dahin gehört auch Bacchus; aber Semele
seine Mutter war nicht so glücklich als Alcmene; ihr
zu grosses Kind nöthigte sie, im siebenden Monden
sich seiner zu entledigen, und sie starb daran; daher
sagt man, daß sie den Jupiter in seiner ganzen Herr-
lichkeit habe sehen wollen, und diese Fabel hat eine
ganz andre Bedeutung, als mein Karakter ihnen zu
erklären erlaubt.

Der gute Herr fand diese gelehrte Rede bewun-
dernswürdig. Auf Christinen machte sie aber
nicht den geringsten Eindruck. Victorin dachte dar-
über nach, und beschloß zu sehn, ob eine solche Ver-
bindung möglich sey; Er erwartete die Zurückkunft
seines ältesten Sohnes, der nicht lange verzog, und
dessen ganzes Ansehn zeigte, daß seine Liebe keinen un-
glücklichen Fortgang habe.

Victorin redete ihn mit einer gütigen Miene an,
gab ihm zu verstehen, daß er die Empfindungen sei-
nes Herzens wüßte, und beschwor ihn bey seiner vä-
terlichen Zärtlichkeit ihn, durch ein uneingeschränk-
tes Vertrauen in den Stand zu setzen, in diesem Fal-
le etwas zu seinem Glücke, es möchte auch bestehn,
worinn es wollte, beyzutragen. Ein so theilnehmen-
des Gespräch hatte seine Würkung. Der junge
Mann antwortete, obwohl mit verfärbten Wangen
seinem Vater also:

Jch würde so vieler Güte unwürdig seyn, mein
Herr, wenn ich Jhnen nicht mein ganzes Herz offen-

barte.



zu bringen, wie Ovid erzaͤhlt; Euriſtheus Vater im
Gegentheil war ein gemeiner Menſch, Amphitrion
genannt; dahin gehoͤrt auch Bacchus; aber Semele
ſeine Mutter war nicht ſo gluͤcklich als Alcmene; ihr
zu groſſes Kind noͤthigte ſie, im ſiebenden Monden
ſich ſeiner zu entledigen, und ſie ſtarb daran; daher
ſagt man, daß ſie den Jupiter in ſeiner ganzen Herr-
lichkeit habe ſehen wollen, und dieſe Fabel hat eine
ganz andre Bedeutung, als mein Karakter ihnen zu
erklaͤren erlaubt.

Der gute Herr fand dieſe gelehrte Rede bewun-
dernswuͤrdig. Auf Chriſtinen machte ſie aber
nicht den geringſten Eindruck. Victorin dachte dar-
uͤber nach, und beſchloß zu ſehn, ob eine ſolche Ver-
bindung moͤglich ſey; Er erwartete die Zuruͤckkunft
ſeines aͤlteſten Sohnes, der nicht lange verzog, und
deſſen ganzes Anſehn zeigte, daß ſeine Liebe keinen un-
gluͤcklichen Fortgang habe.

Victorin redete ihn mit einer guͤtigen Miene an,
gab ihm zu verſtehen, daß er die Empfindungen ſei-
nes Herzens wuͤßte, und beſchwor ihn bey ſeiner vaͤ-
terlichen Zaͤrtlichkeit ihn, durch ein uneingeſchraͤnk-
tes Vertrauen in den Stand zu ſetzen, in dieſem Fal-
le etwas zu ſeinem Gluͤcke, es moͤchte auch beſtehn,
worinn es wollte, beyzutragen. Ein ſo theilnehmen-
des Geſpraͤch hatte ſeine Wuͤrkung. Der junge
Mann antwortete, obwohl mit verfaͤrbten Wangen
ſeinem Vater alſo:

Jch wuͤrde ſo vieler Guͤte unwuͤrdig ſeyn, mein
Herr, wenn ich Jhnen nicht mein ganzes Herz offen-

barte.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0148" n="140"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
zu bringen, wie Ovid erza&#x0364;hlt; Euri&#x017F;theus Vater im<lb/>
Gegentheil war ein gemeiner Men&#x017F;ch, Amphitrion<lb/>
genannt; dahin geho&#x0364;rt auch Bacchus; aber Semele<lb/>
&#x017F;eine Mutter war nicht &#x017F;o glu&#x0364;cklich als Alcmene; ihr<lb/>
zu gro&#x017F;&#x017F;es Kind no&#x0364;thigte &#x017F;ie, im &#x017F;iebenden Monden<lb/>
&#x017F;ich &#x017F;einer zu entledigen, und &#x017F;ie &#x017F;tarb daran; daher<lb/>
&#x017F;agt man, daß &#x017F;ie den Jupiter in &#x017F;einer ganzen Herr-<lb/>
lichkeit habe &#x017F;ehen wollen, und die&#x017F;e Fabel hat eine<lb/>
ganz andre Bedeutung, als mein Karakter ihnen zu<lb/>
erkla&#x0364;ren erlaubt.</p><lb/>
          <p>Der gute Herr fand die&#x017F;e gelehrte Rede bewun-<lb/>
dernswu&#x0364;rdig. Auf Chri&#x017F;tinen machte &#x017F;ie aber<lb/>
nicht den gering&#x017F;ten Eindruck. Victorin dachte dar-<lb/>
u&#x0364;ber nach, und be&#x017F;chloß zu &#x017F;ehn, ob eine &#x017F;olche Ver-<lb/>
bindung mo&#x0364;glich &#x017F;ey; Er erwartete die Zuru&#x0364;ckkunft<lb/>
&#x017F;eines a&#x0364;lte&#x017F;ten Sohnes, der nicht lange verzog, und<lb/>
de&#x017F;&#x017F;en ganzes An&#x017F;ehn zeigte, daß &#x017F;eine Liebe keinen un-<lb/>
glu&#x0364;cklichen Fortgang habe.</p><lb/>
          <p>Victorin redete ihn mit einer gu&#x0364;tigen Miene an,<lb/>
gab ihm zu ver&#x017F;tehen, daß er die Empfindungen &#x017F;ei-<lb/>
nes Herzens wu&#x0364;ßte, und be&#x017F;chwor ihn bey &#x017F;einer va&#x0364;-<lb/>
terlichen Za&#x0364;rtlichkeit ihn, durch ein uneinge&#x017F;chra&#x0364;nk-<lb/>
tes Vertrauen in den Stand zu &#x017F;etzen, in die&#x017F;em Fal-<lb/>
le etwas zu &#x017F;einem Glu&#x0364;cke, es mo&#x0364;chte auch be&#x017F;tehn,<lb/>
worinn es wollte, beyzutragen. Ein &#x017F;o theilnehmen-<lb/>
des Ge&#x017F;pra&#x0364;ch hatte &#x017F;eine Wu&#x0364;rkung. Der junge<lb/>
Mann antwortete, obwohl mit verfa&#x0364;rbten Wangen<lb/>
&#x017F;einem Vater al&#x017F;o:</p><lb/>
          <p>Jch wu&#x0364;rde &#x017F;o vieler Gu&#x0364;te unwu&#x0364;rdig &#x017F;eyn, mein<lb/>
Herr, wenn ich Jhnen nicht mein ganzes Herz offen-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">barte.</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[140/0148] zu bringen, wie Ovid erzaͤhlt; Euriſtheus Vater im Gegentheil war ein gemeiner Menſch, Amphitrion genannt; dahin gehoͤrt auch Bacchus; aber Semele ſeine Mutter war nicht ſo gluͤcklich als Alcmene; ihr zu groſſes Kind noͤthigte ſie, im ſiebenden Monden ſich ſeiner zu entledigen, und ſie ſtarb daran; daher ſagt man, daß ſie den Jupiter in ſeiner ganzen Herr- lichkeit habe ſehen wollen, und dieſe Fabel hat eine ganz andre Bedeutung, als mein Karakter ihnen zu erklaͤren erlaubt. Der gute Herr fand dieſe gelehrte Rede bewun- dernswuͤrdig. Auf Chriſtinen machte ſie aber nicht den geringſten Eindruck. Victorin dachte dar- uͤber nach, und beſchloß zu ſehn, ob eine ſolche Ver- bindung moͤglich ſey; Er erwartete die Zuruͤckkunft ſeines aͤlteſten Sohnes, der nicht lange verzog, und deſſen ganzes Anſehn zeigte, daß ſeine Liebe keinen un- gluͤcklichen Fortgang habe. Victorin redete ihn mit einer guͤtigen Miene an, gab ihm zu verſtehen, daß er die Empfindungen ſei- nes Herzens wuͤßte, und beſchwor ihn bey ſeiner vaͤ- terlichen Zaͤrtlichkeit ihn, durch ein uneingeſchraͤnk- tes Vertrauen in den Stand zu ſetzen, in dieſem Fal- le etwas zu ſeinem Gluͤcke, es moͤchte auch beſtehn, worinn es wollte, beyzutragen. Ein ſo theilnehmen- des Geſpraͤch hatte ſeine Wuͤrkung. Der junge Mann antwortete, obwohl mit verfaͤrbten Wangen ſeinem Vater alſo: Jch wuͤrde ſo vieler Guͤte unwuͤrdig ſeyn, mein Herr, wenn ich Jhnen nicht mein ganzes Herz offen- barte.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/retif_mensch_1785
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/retif_mensch_1785/148
Zitationshilfe: Rétif de La Bretonne, Nicolas-Edme: Der fliegende Mensch. Übers. v. Wilhelm Christhelf Siegmund Mylius. 2. Aufl. Dresden u. a., 1785, S. 140. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/retif_mensch_1785/148>, abgerufen am 27.11.2024.