Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Rétif de La Bretonne, Nicolas-Edme: Der fliegende Mensch. Übers. v. Wilhelm Christhelf Siegmund Mylius. 2. Aufl. Dresden u. a., 1785.

Bild:
<< vorherige Seite



sie Männer noch grösser als die Weiber, die viel mit
ihnen redten und auf die Europäer zeigten. Aber die
Männer schienen wenig Aufmorksamkeit auf sie zu ha-
ben. Man setzte sich auf die hier zu Lande gewöhn-
liche Art zu Tische, das heißt jeder nahm seinen Platz
auf den Balken, die statt der Sessel dienten, und die
Mutter des jungen Mädchen theilte Brodfrucht,
Wurzeln und überdies eine Art von Teig aus, wovon
jeder ein grosses hölzernes Geschirr voll bekam. Als
dies aufgegessen, legte sich jeder auf Blätter, Moos
und auf eben denjenigen Platz hin, den er beym Essen
eingenommen hatte. Nur das junge Mädchen dachte
drauf, den beyden fliegenden Männern etwas Futter
zu geben; sie nahmen es aus ihrer Hand und verur-
sachten dem guten Kinde dadurch eine sehr lebhafte
Freude.

Des andern Morgens machten sie sich wieder
auf den Weg, denn der Aufenthalt schien ihnen da-
selbst beschwerlich. Ein Mensch gewohnt der König
der Natur zu seyn, gefällt sich nicht bey Wesen, die
ihn mit Verachtung einer phisischen Ueberlegenheit,
wogegen nichts ihn tröstet, zu betrachten scheinen:
der bürgerliche Vorzug eurer Fürsten, ja selbst eu-
rer Könige, hingegen macht nur einen ziemlich gerin-
gen Eindruck; denn sobald man die Sachen aus ih-
rem wahren Gesichtspuncte betrachtet, tröstet man
sich damit, daß man eben so viel Kräfte besitze, die
nämlichen Vergnügungen haben könne, eben so viel
sey; und daß sie ohne den Beystand anderer alle un-
sers gleichen seyn würden. Aber ein Wesen, wel-

ches



ſie Maͤnner noch groͤſſer als die Weiber, die viel mit
ihnen redten und auf die Europaͤer zeigten. Aber die
Maͤnner ſchienen wenig Aufmorkſamkeit auf ſie zu ha-
ben. Man ſetzte ſich auf die hier zu Lande gewoͤhn-
liche Art zu Tiſche, das heißt jeder nahm ſeinen Platz
auf den Balken, die ſtatt der Seſſel dienten, und die
Mutter des jungen Maͤdchen theilte Brodfrucht,
Wurzeln und uͤberdies eine Art von Teig aus, wovon
jeder ein groſſes hoͤlzernes Geſchirr voll bekam. Als
dies aufgegeſſen, legte ſich jeder auf Blaͤtter, Moos
und auf eben denjenigen Platz hin, den er beym Eſſen
eingenommen hatte. Nur das junge Maͤdchen dachte
drauf, den beyden fliegenden Maͤnnern etwas Futter
zu geben; ſie nahmen es aus ihrer Hand und verur-
ſachten dem guten Kinde dadurch eine ſehr lebhafte
Freude.

Des andern Morgens machten ſie ſich wieder
auf den Weg, denn der Aufenthalt ſchien ihnen da-
ſelbſt beſchwerlich. Ein Menſch gewohnt der Koͤnig
der Natur zu ſeyn, gefaͤllt ſich nicht bey Weſen, die
ihn mit Verachtung einer phiſiſchen Ueberlegenheit,
wogegen nichts ihn troͤſtet, zu betrachten ſcheinen:
der buͤrgerliche Vorzug eurer Fuͤrſten, ja ſelbſt eu-
rer Koͤnige, hingegen macht nur einen ziemlich gerin-
gen Eindruck; denn ſobald man die Sachen aus ih-
rem wahren Geſichtspuncte betrachtet, troͤſtet man
ſich damit, daß man eben ſo viel Kraͤfte beſitze, die
naͤmlichen Vergnuͤgungen haben koͤnne, eben ſo viel
ſey; und daß ſie ohne den Beyſtand anderer alle un-
ſers gleichen ſeyn wuͤrden. Aber ein Weſen, wel-

ches
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0140" n="132"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
&#x017F;ie Ma&#x0364;nner noch gro&#x0364;&#x017F;&#x017F;er als die Weiber, die viel mit<lb/>
ihnen redten und auf die Europa&#x0364;er zeigten. Aber die<lb/>
Ma&#x0364;nner &#x017F;chienen wenig Aufmork&#x017F;amkeit auf &#x017F;ie zu ha-<lb/>
ben. Man &#x017F;etzte &#x017F;ich auf die hier zu Lande gewo&#x0364;hn-<lb/>
liche Art zu Ti&#x017F;che, das heißt jeder nahm &#x017F;einen Platz<lb/>
auf den Balken, die &#x017F;tatt der Se&#x017F;&#x017F;el dienten, und die<lb/>
Mutter des jungen Ma&#x0364;dchen theilte Brodfrucht,<lb/>
Wurzeln und u&#x0364;berdies eine Art von Teig aus, wovon<lb/>
jeder ein gro&#x017F;&#x017F;es ho&#x0364;lzernes Ge&#x017F;chirr voll bekam. Als<lb/>
dies aufgege&#x017F;&#x017F;en, legte &#x017F;ich jeder auf Bla&#x0364;tter, Moos<lb/>
und auf eben denjenigen Platz hin, den er beym E&#x017F;&#x017F;en<lb/>
eingenommen hatte. Nur das junge Ma&#x0364;dchen dachte<lb/>
drauf, den beyden fliegenden Ma&#x0364;nnern etwas Futter<lb/>
zu geben; &#x017F;ie nahmen es aus ihrer Hand und verur-<lb/>
&#x017F;achten dem guten Kinde dadurch eine &#x017F;ehr lebhafte<lb/>
Freude.</p><lb/>
          <p>Des andern Morgens machten &#x017F;ie &#x017F;ich wieder<lb/>
auf den Weg, denn der Aufenthalt &#x017F;chien ihnen da-<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t be&#x017F;chwerlich. Ein Men&#x017F;ch gewohnt der Ko&#x0364;nig<lb/>
der Natur zu &#x017F;eyn, gefa&#x0364;llt &#x017F;ich nicht bey We&#x017F;en, die<lb/>
ihn mit Verachtung einer phi&#x017F;i&#x017F;chen Ueberlegenheit,<lb/>
wogegen nichts ihn tro&#x0364;&#x017F;tet, zu betrachten &#x017F;cheinen:<lb/>
der bu&#x0364;rgerliche Vorzug eurer Fu&#x0364;r&#x017F;ten, ja &#x017F;elb&#x017F;t eu-<lb/>
rer Ko&#x0364;nige, hingegen macht nur einen ziemlich gerin-<lb/>
gen Eindruck; denn &#x017F;obald man die Sachen aus ih-<lb/>
rem wahren Ge&#x017F;ichtspuncte betrachtet, tro&#x0364;&#x017F;tet man<lb/>
&#x017F;ich damit, daß man eben &#x017F;o viel Kra&#x0364;fte be&#x017F;itze, die<lb/>
na&#x0364;mlichen Vergnu&#x0364;gungen haben ko&#x0364;nne, eben &#x017F;o viel<lb/>
&#x017F;ey; und daß &#x017F;ie ohne den Bey&#x017F;tand anderer alle un-<lb/>
&#x017F;ers gleichen &#x017F;eyn wu&#x0364;rden. Aber ein We&#x017F;en, wel-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">ches</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[132/0140] ſie Maͤnner noch groͤſſer als die Weiber, die viel mit ihnen redten und auf die Europaͤer zeigten. Aber die Maͤnner ſchienen wenig Aufmorkſamkeit auf ſie zu ha- ben. Man ſetzte ſich auf die hier zu Lande gewoͤhn- liche Art zu Tiſche, das heißt jeder nahm ſeinen Platz auf den Balken, die ſtatt der Seſſel dienten, und die Mutter des jungen Maͤdchen theilte Brodfrucht, Wurzeln und uͤberdies eine Art von Teig aus, wovon jeder ein groſſes hoͤlzernes Geſchirr voll bekam. Als dies aufgegeſſen, legte ſich jeder auf Blaͤtter, Moos und auf eben denjenigen Platz hin, den er beym Eſſen eingenommen hatte. Nur das junge Maͤdchen dachte drauf, den beyden fliegenden Maͤnnern etwas Futter zu geben; ſie nahmen es aus ihrer Hand und verur- ſachten dem guten Kinde dadurch eine ſehr lebhafte Freude. Des andern Morgens machten ſie ſich wieder auf den Weg, denn der Aufenthalt ſchien ihnen da- ſelbſt beſchwerlich. Ein Menſch gewohnt der Koͤnig der Natur zu ſeyn, gefaͤllt ſich nicht bey Weſen, die ihn mit Verachtung einer phiſiſchen Ueberlegenheit, wogegen nichts ihn troͤſtet, zu betrachten ſcheinen: der buͤrgerliche Vorzug eurer Fuͤrſten, ja ſelbſt eu- rer Koͤnige, hingegen macht nur einen ziemlich gerin- gen Eindruck; denn ſobald man die Sachen aus ih- rem wahren Geſichtspuncte betrachtet, troͤſtet man ſich damit, daß man eben ſo viel Kraͤfte beſitze, die naͤmlichen Vergnuͤgungen haben koͤnne, eben ſo viel ſey; und daß ſie ohne den Beyſtand anderer alle un- ſers gleichen ſeyn wuͤrden. Aber ein Weſen, wel- ches

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/retif_mensch_1785
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/retif_mensch_1785/140
Zitationshilfe: Rétif de La Bretonne, Nicolas-Edme: Der fliegende Mensch. Übers. v. Wilhelm Christhelf Siegmund Mylius. 2. Aufl. Dresden u. a., 1785, S. 132. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/retif_mensch_1785/140>, abgerufen am 22.11.2024.