Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Rétif de La Bretonne, Nicolas-Edme: Der fliegende Mensch. Übers. v. Wilhelm Christhelf Siegmund Mylius. 2. Aufl. Dresden u. a., 1785.

Bild:
<< vorherige Seite


Victorin und sein Sohn gelangten in der zwölf-
ten Nacht gegen Anbruch der Morgenröthe an den
Wendekreis des Steinbocks, dessen Gestirn gera-
de über ihrem Zenith stand. Die folgenden Tage
durchwanderten sie ungefehr zwanzig bis fünf und
zwanzig Grad, und suchten unter der nämlichen Li-
nie, wo Frankreich liegt, ein ihnen zuträgliches
Land. Sie wurden bald eine so beträchtliche Jnsel
gewahr, daß sie solche auf dieser ersten Reise für eine
Halbinsel hielten; weil sie aber bewohnt war, liessen
sie dieselbe liegen, und entdeckten ein zwanzig Meilen
davon unter dem 00 Grade südlicher Breite und
00 der Länge, eine andere, so groß als England,
Schottland und Jrrland zusammen. Sie lag mit
Frankreich unter einer Mittagslinie, folglich sind die
Tagesstunden daselbst die nämlichen, und blos die
Jahreszeiten einander ganz entgegengesezt.

Erste Jnsel.
Die Christinen- oder nächtliche Jnsel.

Victorin und sein Sohn durchflogen diese Jnsel
etliche Tage lang: sie war mit Holz bedeckt; doch
fand sich eine Art von Wiesen und eine unzähliche
Menge friedlicher Thiere, als Auer- und Büffeloch-
sen, Ochsen, eine Art von Hirschen und Tannenhir-
schen, wilde Ziegen, ein Thier das dem Zebra oder
Esel sehr glich; ein anderes, dem Pferde ähnlich; von
fleischfressenden Thieren merkten sie nur den Tieger
oder Jagals von der allerkleinsten Gattung, die troz
ihrer starken Anzahl die grossen Thiere nur dann an-

fielen,


Victorin und ſein Sohn gelangten in der zwoͤlf-
ten Nacht gegen Anbruch der Morgenroͤthe an den
Wendekreis des Steinbocks, deſſen Geſtirn gera-
de uͤber ihrem Zenith ſtand. Die folgenden Tage
durchwanderten ſie ungefehr zwanzig bis fuͤnf und
zwanzig Grad, und ſuchten unter der naͤmlichen Li-
nie, wo Frankreich liegt, ein ihnen zutraͤgliches
Land. Sie wurden bald eine ſo betraͤchtliche Jnſel
gewahr, daß ſie ſolche auf dieſer erſten Reiſe fuͤr eine
Halbinſel hielten; weil ſie aber bewohnt war, lieſſen
ſie dieſelbe liegen, und entdeckten ein zwanzig Meilen
davon unter dem 00 Grade ſuͤdlicher Breite und
00 der Laͤnge, eine andere, ſo groß als England,
Schottland und Jrrland zuſammen. Sie lag mit
Frankreich unter einer Mittagslinie, folglich ſind die
Tagesſtunden daſelbſt die naͤmlichen, und blos die
Jahreszeiten einander ganz entgegengeſezt.

Erſte Jnſel.
Die Chriſtinen- oder naͤchtliche Jnſel.

Victorin und ſein Sohn durchflogen dieſe Jnſel
etliche Tage lang: ſie war mit Holz bedeckt; doch
fand ſich eine Art von Wieſen und eine unzaͤhliche
Menge friedlicher Thiere, als Auer- und Buͤffeloch-
ſen, Ochſen, eine Art von Hirſchen und Tannenhir-
ſchen, wilde Ziegen, ein Thier das dem Zebra oder
Eſel ſehr glich; ein anderes, dem Pferde aͤhnlich; von
fleiſchfreſſenden Thieren merkten ſie nur den Tieger
oder Jagals von der allerkleinſten Gattung, die troz
ihrer ſtarken Anzahl die groſſen Thiere nur dann an-

fielen,
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0124" n="116"/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        <p>Victorin und &#x017F;ein Sohn gelangten in der zwo&#x0364;lf-<lb/>
ten Nacht gegen Anbruch der Morgenro&#x0364;the an den<lb/>
Wendekreis des Steinbocks, de&#x017F;&#x017F;en Ge&#x017F;tirn gera-<lb/>
de u&#x0364;ber ihrem Zenith &#x017F;tand. Die folgenden Tage<lb/>
durchwanderten &#x017F;ie ungefehr zwanzig bis fu&#x0364;nf und<lb/>
zwanzig Grad, und &#x017F;uchten unter der na&#x0364;mlichen Li-<lb/>
nie, wo Frankreich liegt, ein ihnen zutra&#x0364;gliches<lb/>
Land. Sie wurden bald eine &#x017F;o betra&#x0364;chtliche Jn&#x017F;el<lb/>
gewahr, daß &#x017F;ie &#x017F;olche auf die&#x017F;er er&#x017F;ten Rei&#x017F;e fu&#x0364;r eine<lb/>
Halbin&#x017F;el hielten; weil &#x017F;ie aber bewohnt war, lie&#x017F;&#x017F;en<lb/>
&#x017F;ie die&#x017F;elbe liegen, und entdeckten ein zwanzig Meilen<lb/>
davon unter dem 00 Grade &#x017F;u&#x0364;dlicher Breite und<lb/>
00 der La&#x0364;nge, eine andere, &#x017F;o groß als England,<lb/>
Schottland und Jrrland zu&#x017F;ammen. Sie lag mit<lb/>
Frankreich unter einer Mittagslinie, folglich &#x017F;ind die<lb/>
Tages&#x017F;tunden da&#x017F;elb&#x017F;t die na&#x0364;mlichen, und blos die<lb/>
Jahreszeiten einander ganz entgegenge&#x017F;ezt.</p><lb/>
        <div n="2">
          <head> <hi rendition="#b"><hi rendition="#g">Er&#x017F;te Jn&#x017F;el.</hi><lb/>
Die Chri&#x017F;tinen- oder na&#x0364;chtliche Jn&#x017F;el.</hi> </head><lb/>
          <p>Victorin und &#x017F;ein Sohn durchflogen die&#x017F;e Jn&#x017F;el<lb/>
etliche Tage lang: &#x017F;ie war mit Holz bedeckt; doch<lb/>
fand &#x017F;ich eine Art von Wie&#x017F;en und eine unza&#x0364;hliche<lb/>
Menge friedlicher Thiere, als Auer- und Bu&#x0364;ffeloch-<lb/>
&#x017F;en, Och&#x017F;en, eine Art von Hir&#x017F;chen und Tannenhir-<lb/>
&#x017F;chen, wilde Ziegen, ein Thier das dem Zebra oder<lb/>
E&#x017F;el &#x017F;ehr glich; ein anderes, dem Pferde a&#x0364;hnlich; von<lb/>
flei&#x017F;chfre&#x017F;&#x017F;enden Thieren merkten &#x017F;ie nur den Tieger<lb/>
oder Jagals von der allerklein&#x017F;ten Gattung, die troz<lb/>
ihrer &#x017F;tarken Anzahl die gro&#x017F;&#x017F;en Thiere nur dann an-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">fielen,</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[116/0124] Victorin und ſein Sohn gelangten in der zwoͤlf- ten Nacht gegen Anbruch der Morgenroͤthe an den Wendekreis des Steinbocks, deſſen Geſtirn gera- de uͤber ihrem Zenith ſtand. Die folgenden Tage durchwanderten ſie ungefehr zwanzig bis fuͤnf und zwanzig Grad, und ſuchten unter der naͤmlichen Li- nie, wo Frankreich liegt, ein ihnen zutraͤgliches Land. Sie wurden bald eine ſo betraͤchtliche Jnſel gewahr, daß ſie ſolche auf dieſer erſten Reiſe fuͤr eine Halbinſel hielten; weil ſie aber bewohnt war, lieſſen ſie dieſelbe liegen, und entdeckten ein zwanzig Meilen davon unter dem 00 Grade ſuͤdlicher Breite und 00 der Laͤnge, eine andere, ſo groß als England, Schottland und Jrrland zuſammen. Sie lag mit Frankreich unter einer Mittagslinie, folglich ſind die Tagesſtunden daſelbſt die naͤmlichen, und blos die Jahreszeiten einander ganz entgegengeſezt. Erſte Jnſel. Die Chriſtinen- oder naͤchtliche Jnſel. Victorin und ſein Sohn durchflogen dieſe Jnſel etliche Tage lang: ſie war mit Holz bedeckt; doch fand ſich eine Art von Wieſen und eine unzaͤhliche Menge friedlicher Thiere, als Auer- und Buͤffeloch- ſen, Ochſen, eine Art von Hirſchen und Tannenhir- ſchen, wilde Ziegen, ein Thier das dem Zebra oder Eſel ſehr glich; ein anderes, dem Pferde aͤhnlich; von fleiſchfreſſenden Thieren merkten ſie nur den Tieger oder Jagals von der allerkleinſten Gattung, die troz ihrer ſtarken Anzahl die groſſen Thiere nur dann an- fielen,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/retif_mensch_1785
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/retif_mensch_1785/124
Zitationshilfe: Rétif de La Bretonne, Nicolas-Edme: Der fliegende Mensch. Übers. v. Wilhelm Christhelf Siegmund Mylius. 2. Aufl. Dresden u. a., 1785, S. 116. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/retif_mensch_1785/124>, abgerufen am 07.05.2024.