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Rétif de La Bretonne, Nicolas-Edme: Der fliegende Mensch. Übers. v. Wilhelm Christhelf Siegmund Mylius. 2. Aufl. Dresden u. a., 1785.

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Sobald als Victorin zurück kam, erzählte man
ihm diesen Vorfall. Er erblaßte, denn er betete sei-
ne Gemahlin noch in ihren Kindern an. -- Zeige
mir deine Flügel, mein Sohn!

Mit Frohlocken brachte Alexander sie ihm. Als
aber der Vater die Sicherheitsfeder daran nicht fand,
die er selbst erst nach einer Gefahr hinzugefügt hatte,
zeigt' er ihm die seinigen. Siehst du kleiner Wagehals,
sprach er, woran dein ganzes Leben hieng? wenn dein
Riemen riß, wer hielt dich dann? ... Es mag gut
seyn, fuhr er fort, als er sah, daß Christine sich
darüber entsetzte; im Grunde aber sind sie nicht weni-
ger straffällig, daß sie unsern Sohn, den wir mehr
lieben als uns selbst, der Gefahr ausgesetzt haben ...

Das Kind bat seinen Vater, besonders aber sei-
ne zärtliche Mutter um Verzeihung und versprach,
niemals wieder so unüberlegt zu handeln. Victorin
ließ ihm sogleich eine Sicherheitsfeder sich machen,
gab ihm verschiedene Gurte und Riemen, und er-
laubt' ihm, als die Feder den andern Tag fertig war,
nunmehr sich in die Luft zu schwingen. Dies setzte
der Knabe mit solcher Dreistigkeit ins Werk, als
wenn er würklich ein Vogel gewesen wäre.

Victorin hatte noch nicht daran gedacht, seinen
Kindern die Kunst sich ähnlicher Flügel zu bedienen
zu lehren. Vielmehr hatt' er es mit der grösten
Sorgfalt jederzeit zu verbergen gesucht. Als er sich
aber verrathen sah, hielt er es für das einzige Mittel,
seiner Familie einen Vorzug für den übrigen Bewoh-
nern des Berges zu geben, wenn er ihnen ausschlus-

wei-


Sobald als Victorin zuruͤck kam, erzaͤhlte man
ihm dieſen Vorfall. Er erblaßte, denn er betete ſei-
ne Gemahlin noch in ihren Kindern an. — Zeige
mir deine Fluͤgel, mein Sohn!

Mit Frohlocken brachte Alexander ſie ihm. Als
aber der Vater die Sicherheitsfeder daran nicht fand,
die er ſelbſt erſt nach einer Gefahr hinzugefuͤgt hatte,
zeigt’ er ihm die ſeinigen. Siehſt du kleiner Wagehals,
ſprach er, woran dein ganzes Leben hieng? wenn dein
Riemen riß, wer hielt dich dann? … Es mag gut
ſeyn, fuhr er fort, als er ſah, daß Chriſtine ſich
daruͤber entſetzte; im Grunde aber ſind ſie nicht weni-
ger ſtraffaͤllig, daß ſie unſern Sohn, den wir mehr
lieben als uns ſelbſt, der Gefahr ausgeſetzt haben …

Das Kind bat ſeinen Vater, beſonders aber ſei-
ne zaͤrtliche Mutter um Verzeihung und verſprach,
niemals wieder ſo unuͤberlegt zu handeln. Victorin
ließ ihm ſogleich eine Sicherheitsfeder ſich machen,
gab ihm verſchiedene Gurte und Riemen, und er-
laubt’ ihm, als die Feder den andern Tag fertig war,
nunmehr ſich in die Luft zu ſchwingen. Dies ſetzte
der Knabe mit ſolcher Dreiſtigkeit ins Werk, als
wenn er wuͤrklich ein Vogel geweſen waͤre.

Victorin hatte noch nicht daran gedacht, ſeinen
Kindern die Kunſt ſich aͤhnlicher Fluͤgel zu bedienen
zu lehren. Vielmehr hatt’ er es mit der groͤſten
Sorgfalt jederzeit zu verbergen geſucht. Als er ſich
aber verrathen ſah, hielt er es fuͤr das einzige Mittel,
ſeiner Familie einen Vorzug fuͤr den uͤbrigen Bewoh-
nern des Berges zu geben, wenn er ihnen ausſchlus-

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[93/0101] Sobald als Victorin zuruͤck kam, erzaͤhlte man ihm dieſen Vorfall. Er erblaßte, denn er betete ſei- ne Gemahlin noch in ihren Kindern an. — Zeige mir deine Fluͤgel, mein Sohn! Mit Frohlocken brachte Alexander ſie ihm. Als aber der Vater die Sicherheitsfeder daran nicht fand, die er ſelbſt erſt nach einer Gefahr hinzugefuͤgt hatte, zeigt’ er ihm die ſeinigen. Siehſt du kleiner Wagehals, ſprach er, woran dein ganzes Leben hieng? wenn dein Riemen riß, wer hielt dich dann? … Es mag gut ſeyn, fuhr er fort, als er ſah, daß Chriſtine ſich daruͤber entſetzte; im Grunde aber ſind ſie nicht weni- ger ſtraffaͤllig, daß ſie unſern Sohn, den wir mehr lieben als uns ſelbſt, der Gefahr ausgeſetzt haben … Das Kind bat ſeinen Vater, beſonders aber ſei- ne zaͤrtliche Mutter um Verzeihung und verſprach, niemals wieder ſo unuͤberlegt zu handeln. Victorin ließ ihm ſogleich eine Sicherheitsfeder ſich machen, gab ihm verſchiedene Gurte und Riemen, und er- laubt’ ihm, als die Feder den andern Tag fertig war, nunmehr ſich in die Luft zu ſchwingen. Dies ſetzte der Knabe mit ſolcher Dreiſtigkeit ins Werk, als wenn er wuͤrklich ein Vogel geweſen waͤre. Victorin hatte noch nicht daran gedacht, ſeinen Kindern die Kunſt ſich aͤhnlicher Fluͤgel zu bedienen zu lehren. Vielmehr hatt’ er es mit der groͤſten Sorgfalt jederzeit zu verbergen geſucht. Als er ſich aber verrathen ſah, hielt er es fuͤr das einzige Mittel, ſeiner Familie einen Vorzug fuͤr den uͤbrigen Bewoh- nern des Berges zu geben, wenn er ihnen ausſchlus- wei-

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Zitationshilfe: Rétif de La Bretonne, Nicolas-Edme: Der fliegende Mensch. Übers. v. Wilhelm Christhelf Siegmund Mylius. 2. Aufl. Dresden u. a., 1785, S. 93. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/retif_mensch_1785/101>, abgerufen am 25.11.2024.