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Rein, Johann Justus: Japan nach Reisen und Studien. Bd. 2. Leipzig, 1886.

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I. Land- und Forstwirthschaft.
sich die Maulbeerpflanzungen mehr und mehr aus; doch schlugen
Seidenindustrie und Raupenzucht erst dann festere Wurzeln, als Hein-
rich IV. sich lebhaft dafür interessierte und seinen Unterthanen darin
ein hervorragendes Beispiel von Umsicht und Ausdauer gab. Der
Luxus, welchen der Hof Ludwigs XIV. entfaltete, vereint mit hohen
Ehren, die auf Anregung Colberts erfolgreichen Seidenfabrikanten in
Aussicht gestellt wurden, waren gewaltige Stimulanten für die Hebung
der Seidenindustrie; dagegen ging die Seidenzucht um jene Zeit wie-
der merklich zurück und war nur im Stande, den fünften Theil der
6000 Centner Rohseide zu liefern, welche die französische Industrie
damals verarbeitete. Einen neuen Aufschwung nahm sie unter Lud-
wig XVI.; sie gab vor der grossen Revolution eine Jahresernte von
61/2 Millionen kg Cocons (etwa 11/2 Millionen kg Seide). Die Revolu-
tion brachte dieselbe auf 3600000 kg Cocons zurück, doch hob sie
sich und verbreitete sich nach derselben ziemlich stetig, bis das Jahr
1853 ihren Maximalertrag mit 26 Millionen kg Cocons aufwies. In
der Zeit von 1840--1860 berechnet man die jährliche Rohseidenpro-
duktion von 28 Departements des südlichen und mittleren Frankreichs
im Durchschnitt auf 40000 Centner im Werthe von 100 Millionen
Francs. Da trat die verheerende Seidenraupenkrankheit ein und re-
ducierte im Jahre 1865 den Ertrag auf 34 Millionen Franken und in
den Sevennen sogar auf 1/20 früherer Ernten. Hier, wo z. B. im De-
partement Alais die beste Rohseide für die stärksten Ketten feiner
Gewebe gewonnen wird und eine Hektare Maulbeerpflanzungen
20000 Francs werth war mit einem Jahresertrag von 1200 Francs,
wurde die Wirkung auf den bisherigen Wohlstand und den Landwerth
besonders fühlbar.

Man muss die Alpen als Nordgrenze der erfolg- und einfluss-
reichen Seidenzucht in Europa bezeichnen. Alle Versuche und Be-
mühungen durch Fürsten, Privatpersonen und Genossenschaften dieselbe
auch über die Länder Centraleuropas zu verbreiten, haben bisher, un-
geachtet kleiner Erfolge, sie hier nicht einzubürgern vermocht. Alte,
moosbedeckte Maulbeerbäume in grösserer Anzahl da und dort im
deutschen Reiche sind, wie Maulbeerhecken an Eisenbahndämmen und
sonst, die Zeichen solcher vergeblichen Versuche. Dieselben begannen
in Brandenburg, als die eingewanderten Hugenotten auch die Seiden-
weberei einführten. Friedrich der Grosse ermunterte sie und suchte
die Seidenzucht durch das Anpflanzen von Millionen Maulbeerbäumen
zu fördern. Im Jahre 1784 hatte man in seinem Lande 14000 Pfund
Rohseide gewonnen, ein Ertrag, welcher seitdem im gesammten
Deutschland nicht wieder erreicht worden ist. Wenn dasselbe heut-

I. Land- und Forstwirthschaft.
sich die Maulbeerpflanzungen mehr und mehr aus; doch schlugen
Seidenindustrie und Raupenzucht erst dann festere Wurzeln, als Hein-
rich IV. sich lebhaft dafür interessierte und seinen Unterthanen darin
ein hervorragendes Beispiel von Umsicht und Ausdauer gab. Der
Luxus, welchen der Hof Ludwigs XIV. entfaltete, vereint mit hohen
Ehren, die auf Anregung Colberts erfolgreichen Seidenfabrikanten in
Aussicht gestellt wurden, waren gewaltige Stimulanten für die Hebung
der Seidenindustrie; dagegen ging die Seidenzucht um jene Zeit wie-
der merklich zurück und war nur im Stande, den fünften Theil der
6000 Centner Rohseide zu liefern, welche die französische Industrie
damals verarbeitete. Einen neuen Aufschwung nahm sie unter Lud-
wig XVI.; sie gab vor der grossen Revolution eine Jahresernte von
6½ Millionen kg Cocons (etwa 1½ Millionen kg Seide). Die Revolu-
tion brachte dieselbe auf 3600000 kg Cocons zurück, doch hob sie
sich und verbreitete sich nach derselben ziemlich stetig, bis das Jahr
1853 ihren Maximalertrag mit 26 Millionen kg Cocons aufwies. In
der Zeit von 1840—1860 berechnet man die jährliche Rohseidenpro-
duktion von 28 Departements des südlichen und mittleren Frankreichs
im Durchschnitt auf 40000 Centner im Werthe von 100 Millionen
Francs. Da trat die verheerende Seidenraupenkrankheit ein und re-
ducierte im Jahre 1865 den Ertrag auf 34 Millionen Franken und in
den Sevennen sogar auf 1/20 früherer Ernten. Hier, wo z. B. im De-
partement Alais die beste Rohseide für die stärksten Ketten feiner
Gewebe gewonnen wird und eine Hektare Maulbeerpflanzungen
20000 Francs werth war mit einem Jahresertrag von 1200 Francs,
wurde die Wirkung auf den bisherigen Wohlstand und den Landwerth
besonders fühlbar.

Man muss die Alpen als Nordgrenze der erfolg- und einfluss-
reichen Seidenzucht in Europa bezeichnen. Alle Versuche und Be-
mühungen durch Fürsten, Privatpersonen und Genossenschaften dieselbe
auch über die Länder Centraleuropas zu verbreiten, haben bisher, un-
geachtet kleiner Erfolge, sie hier nicht einzubürgern vermocht. Alte,
moosbedeckte Maulbeerbäume in grösserer Anzahl da und dort im
deutschen Reiche sind, wie Maulbeerhecken an Eisenbahndämmen und
sonst, die Zeichen solcher vergeblichen Versuche. Dieselben begannen
in Brandenburg, als die eingewanderten Hugenotten auch die Seiden-
weberei einführten. Friedrich der Grosse ermunterte sie und suchte
die Seidenzucht durch das Anpflanzen von Millionen Maulbeerbäumen
zu fördern. Im Jahre 1784 hatte man in seinem Lande 14000 Pfund
Rohseide gewonnen, ein Ertrag, welcher seitdem im gesammten
Deutschland nicht wieder erreicht worden ist. Wenn dasselbe heut-

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[224/0246] I. Land- und Forstwirthschaft. sich die Maulbeerpflanzungen mehr und mehr aus; doch schlugen Seidenindustrie und Raupenzucht erst dann festere Wurzeln, als Hein- rich IV. sich lebhaft dafür interessierte und seinen Unterthanen darin ein hervorragendes Beispiel von Umsicht und Ausdauer gab. Der Luxus, welchen der Hof Ludwigs XIV. entfaltete, vereint mit hohen Ehren, die auf Anregung Colberts erfolgreichen Seidenfabrikanten in Aussicht gestellt wurden, waren gewaltige Stimulanten für die Hebung der Seidenindustrie; dagegen ging die Seidenzucht um jene Zeit wie- der merklich zurück und war nur im Stande, den fünften Theil der 6000 Centner Rohseide zu liefern, welche die französische Industrie damals verarbeitete. Einen neuen Aufschwung nahm sie unter Lud- wig XVI.; sie gab vor der grossen Revolution eine Jahresernte von 6½ Millionen kg Cocons (etwa 1½ Millionen kg Seide). Die Revolu- tion brachte dieselbe auf 3600000 kg Cocons zurück, doch hob sie sich und verbreitete sich nach derselben ziemlich stetig, bis das Jahr 1853 ihren Maximalertrag mit 26 Millionen kg Cocons aufwies. In der Zeit von 1840—1860 berechnet man die jährliche Rohseidenpro- duktion von 28 Departements des südlichen und mittleren Frankreichs im Durchschnitt auf 40000 Centner im Werthe von 100 Millionen Francs. Da trat die verheerende Seidenraupenkrankheit ein und re- ducierte im Jahre 1865 den Ertrag auf 34 Millionen Franken und in den Sevennen sogar auf 1/20 früherer Ernten. Hier, wo z. B. im De- partement Alais die beste Rohseide für die stärksten Ketten feiner Gewebe gewonnen wird und eine Hektare Maulbeerpflanzungen 20000 Francs werth war mit einem Jahresertrag von 1200 Francs, wurde die Wirkung auf den bisherigen Wohlstand und den Landwerth besonders fühlbar. Man muss die Alpen als Nordgrenze der erfolg- und einfluss- reichen Seidenzucht in Europa bezeichnen. Alle Versuche und Be- mühungen durch Fürsten, Privatpersonen und Genossenschaften dieselbe auch über die Länder Centraleuropas zu verbreiten, haben bisher, un- geachtet kleiner Erfolge, sie hier nicht einzubürgern vermocht. Alte, moosbedeckte Maulbeerbäume in grösserer Anzahl da und dort im deutschen Reiche sind, wie Maulbeerhecken an Eisenbahndämmen und sonst, die Zeichen solcher vergeblichen Versuche. Dieselben begannen in Brandenburg, als die eingewanderten Hugenotten auch die Seiden- weberei einführten. Friedrich der Grosse ermunterte sie und suchte die Seidenzucht durch das Anpflanzen von Millionen Maulbeerbäumen zu fördern. Im Jahre 1784 hatte man in seinem Lande 14000 Pfund Rohseide gewonnen, ein Ertrag, welcher seitdem im gesammten Deutschland nicht wieder erreicht worden ist. Wenn dasselbe heut-

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Zitationshilfe: Rein, Johann Justus: Japan nach Reisen und Studien. Bd. 2. Leipzig, 1886, S. 224. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rein_japan02_1886/246>, abgerufen am 18.04.2024.