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Rein, Johann Justus: Japan nach Reisen und Studien. Bd. 1. Leipzig, 1881.

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II. Ethnographie.
an den Zugängen volksthümlicher Tempel den mitleidigen Besuchern
feilbieten, die sie kaufen und der Freiheit zurückgeben. So kann
man in einigen Strassen von Tokio auch häufig Frauen und Kinder
mit lebenden Schlammfischen sehen, die sie in einem benachbarten
Graben fingen und demselben wieder zurückgeben, wenn der Vor-
übergehende das kleine Lösegeld für sie zahlt.

Der Buddhismus theilt sich mit dem Muhamedanismus in die
Herrschaft Asiens; er ist eine der ältesten und einflussreichsten Reli-
gionen. Gegen 500 Millionen Menschen, d. h. etwa ein Drittel von
der Bevölkerung der Erde gehören zu seinen Bekennern. "Die Ge-
schichte Ostasiens ist die Geschichte des Buddhismus", sagt Eitel.
"Doch sind die Siege dieses grossen Systemes von philosophischem
Atheismus, welcher vom Weltall das Dasein einer erschaffenden und
regierenden Gottheit entfernt und dafür den Menschen deificiert, nicht
blos auf Asien beschränkt, denn auch im Occident hat diese An-
schauung heutzutage ihre zahlreichen Bekenner". Mag man von dem
grassen Götzendienst des Buddhismus in seiner späteren Entartung
noch so gering denken, so wird man doch zugeben müssen, dass die
Raschheit und der Enthusiasmus, womit die Lehre Shaka's (Cakya-
muni's) über ganz Ostasien sich verbreitete und die dritthalb Tausend
Jahre, durch welche sie sich erhalten hat, genügend für ihre grosse
Bedeutung sprechen. Sie hat in Ostasien unstreitig eine civilisatorische
Macht geübt, der keine andere gleichkommt, die blutigen Opfer älterer
Culte verdrängt, dem strengen Kastengeist engegengewirkt und eine
friedliche, milde Gesinnung verbreitet, namentlich unter der grossen
Masse des Volkes. Die Japaner insbesondere verdanken dem Buddhis-
mus ihre heutige Civilisation und Cultur, ihre grosse Empfänglichkeit
für die Schönheiten der Natur und die hohe Vollendung verschiedener
Zweige ihres Kunstgewerbes. In China wie in Japan fand das ge-
meine Volk im Buddhismus viel mehr Befriedigung seiner religiösen
Bedürfnisse, als sie ihm der Ahnencultus und die Tugendlehren der
chinesischen Weisen gewähren konnten; anders stand es freilich bei
den meist kriegerischen und auf ihre Vorrechte stolzen Samurai.

Der Einfluss des Buddhismus auf den Kamidienst wurde bereits
oben kurz skizziert. Er zeigte sich namentlich, als gegen das Jahr
800 der gelehrte und fromme Mönch Kobo Daishi, dem man die Er-
findung des Kata-kana zuschreibt, der Ueberzeugung Ausdruck gab,
dass die neue Lehre nur dann tiefere Wurzeln schlagen könne, wenn
sie die alten Götter und Heldensagen der Japaner in sich verschmelze.
So wurden nach seinem Vorgang die Kami je nach ihrem Range als
Erscheinungsformen von Buddhas oder untergeordneten Gottheiten

II. Ethnographie.
an den Zugängen volksthümlicher Tempel den mitleidigen Besuchern
feilbieten, die sie kaufen und der Freiheit zurückgeben. So kann
man in einigen Strassen von Tôkio auch häufig Frauen und Kinder
mit lebenden Schlammfischen sehen, die sie in einem benachbarten
Graben fingen und demselben wieder zurückgeben, wenn der Vor-
übergehende das kleine Lösegeld für sie zahlt.

Der Buddhismus theilt sich mit dem Muhamedanismus in die
Herrschaft Asiens; er ist eine der ältesten und einflussreichsten Reli-
gionen. Gegen 500 Millionen Menschen, d. h. etwa ein Drittel von
der Bevölkerung der Erde gehören zu seinen Bekennern. »Die Ge-
schichte Ostasiens ist die Geschichte des Buddhismus«, sagt Eitel.
»Doch sind die Siege dieses grossen Systemes von philosophischem
Atheïsmus, welcher vom Weltall das Dasein einer erschaffenden und
regierenden Gottheit entfernt und dafür den Menschen deïficiert, nicht
blos auf Asien beschränkt, denn auch im Occident hat diese An-
schauung heutzutage ihre zahlreichen Bekenner«. Mag man von dem
grassen Götzendienst des Buddhismus in seiner späteren Entartung
noch so gering denken, so wird man doch zugeben müssen, dass die
Raschheit und der Enthusiasmus, womit die Lehre Shaka’s (Çâkya-
muni’s) über ganz Ostasien sich verbreitete und die dritthalb Tausend
Jahre, durch welche sie sich erhalten hat, genügend für ihre grosse
Bedeutung sprechen. Sie hat in Ostasien unstreitig eine civilisatorische
Macht geübt, der keine andere gleichkommt, die blutigen Opfer älterer
Culte verdrängt, dem strengen Kastengeist engegengewirkt und eine
friedliche, milde Gesinnung verbreitet, namentlich unter der grossen
Masse des Volkes. Die Japaner insbesondere verdanken dem Buddhis-
mus ihre heutige Civilisation und Cultur, ihre grosse Empfänglichkeit
für die Schönheiten der Natur und die hohe Vollendung verschiedener
Zweige ihres Kunstgewerbes. In China wie in Japan fand das ge-
meine Volk im Buddhismus viel mehr Befriedigung seiner religiösen
Bedürfnisse, als sie ihm der Ahnencultus und die Tugendlehren der
chinesischen Weisen gewähren konnten; anders stand es freilich bei
den meist kriegerischen und auf ihre Vorrechte stolzen Samurai.

Der Einfluss des Buddhismus auf den Kamidienst wurde bereits
oben kurz skizziert. Er zeigte sich namentlich, als gegen das Jahr
800 der gelehrte und fromme Mönch Kôbô Daishi, dem man die Er-
findung des Kata-kana zuschreibt, der Ueberzeugung Ausdruck gab,
dass die neue Lehre nur dann tiefere Wurzeln schlagen könne, wenn
sie die alten Götter und Heldensagen der Japaner in sich verschmelze.
So wurden nach seinem Vorgang die Kami je nach ihrem Range als
Erscheinungsformen von Buddhas oder untergeordneten Gottheiten

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[524/0558] II. Ethnographie. an den Zugängen volksthümlicher Tempel den mitleidigen Besuchern feilbieten, die sie kaufen und der Freiheit zurückgeben. So kann man in einigen Strassen von Tôkio auch häufig Frauen und Kinder mit lebenden Schlammfischen sehen, die sie in einem benachbarten Graben fingen und demselben wieder zurückgeben, wenn der Vor- übergehende das kleine Lösegeld für sie zahlt. Der Buddhismus theilt sich mit dem Muhamedanismus in die Herrschaft Asiens; er ist eine der ältesten und einflussreichsten Reli- gionen. Gegen 500 Millionen Menschen, d. h. etwa ein Drittel von der Bevölkerung der Erde gehören zu seinen Bekennern. »Die Ge- schichte Ostasiens ist die Geschichte des Buddhismus«, sagt Eitel. »Doch sind die Siege dieses grossen Systemes von philosophischem Atheïsmus, welcher vom Weltall das Dasein einer erschaffenden und regierenden Gottheit entfernt und dafür den Menschen deïficiert, nicht blos auf Asien beschränkt, denn auch im Occident hat diese An- schauung heutzutage ihre zahlreichen Bekenner«. Mag man von dem grassen Götzendienst des Buddhismus in seiner späteren Entartung noch so gering denken, so wird man doch zugeben müssen, dass die Raschheit und der Enthusiasmus, womit die Lehre Shaka’s (Çâkya- muni’s) über ganz Ostasien sich verbreitete und die dritthalb Tausend Jahre, durch welche sie sich erhalten hat, genügend für ihre grosse Bedeutung sprechen. Sie hat in Ostasien unstreitig eine civilisatorische Macht geübt, der keine andere gleichkommt, die blutigen Opfer älterer Culte verdrängt, dem strengen Kastengeist engegengewirkt und eine friedliche, milde Gesinnung verbreitet, namentlich unter der grossen Masse des Volkes. Die Japaner insbesondere verdanken dem Buddhis- mus ihre heutige Civilisation und Cultur, ihre grosse Empfänglichkeit für die Schönheiten der Natur und die hohe Vollendung verschiedener Zweige ihres Kunstgewerbes. In China wie in Japan fand das ge- meine Volk im Buddhismus viel mehr Befriedigung seiner religiösen Bedürfnisse, als sie ihm der Ahnencultus und die Tugendlehren der chinesischen Weisen gewähren konnten; anders stand es freilich bei den meist kriegerischen und auf ihre Vorrechte stolzen Samurai. Der Einfluss des Buddhismus auf den Kamidienst wurde bereits oben kurz skizziert. Er zeigte sich namentlich, als gegen das Jahr 800 der gelehrte und fromme Mönch Kôbô Daishi, dem man die Er- findung des Kata-kana zuschreibt, der Ueberzeugung Ausdruck gab, dass die neue Lehre nur dann tiefere Wurzeln schlagen könne, wenn sie die alten Götter und Heldensagen der Japaner in sich verschmelze. So wurden nach seinem Vorgang die Kami je nach ihrem Range als Erscheinungsformen von Buddhas oder untergeordneten Gottheiten

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Zitationshilfe: Rein, Johann Justus: Japan nach Reisen und Studien. Bd. 1. Leipzig, 1881, S. 524. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rein_japan01_1881/558>, abgerufen am 22.11.2024.