Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Rein, Johann Justus: Japan nach Reisen und Studien. Bd. 1. Leipzig, 1881.

Bild:
<< vorherige Seite
II. Ethnographie.

Ueber das Leben und Wirken des hochgefeierten chinesischen
Weisen herrscht kein Zweifel. Es ist eine historische Persönlichkeit,
welche im 6. Jahrhundert v. Chr. auftrat, etwa 100 Jahre später als
Siddartha (Buddha) und ebensoviel früher als Socrates. Er war Poet,
Historiker, Kritiker und Philosoph, doch ist es seine Bedeutung in
letzter Eigenschaft, welche hier in Betracht kommt. Dabei hat er
die höheren religiösen Fragen über unsere Beziehungen zu Gott und
die Unsterblichkeit der Seele unberührt gelassen. Seine Ethik gipfelt
in der Frage: "Wie muss der Mensch als Staatsbürger und gegen
seine Mitmenschen sich verhalten, um tugendhaft und glücklich zu
sein?" -- Nach Koshi steht Pietät gegen die Eltern als oberste
Pflicht und Tugend da, welche auch nach dem Tode derselben fort-
dauern soll. Allgemeine Menschenliebe kennt er nicht; er hält, wie
wir bereits früher sahen, die Blutrache nicht blos für zulässig, son-
dern für eine Pflicht. Der wahre Anhänger des Confucius ist ein
guter Sohn, loyaler Unterthan und treuer Gatte. "Unter hundert
Tugenden steht Pietät gegen die Eltern obenan; unter zehntausend
Verbrechen ist Ehebruch das grösste". "Treue, Elternliebe, Reinheit
des Herzens und Aufrichtigkeit verbreiten Wohlgeruch durch hundert
Generationen". Die fünf grossen Tugenden, welche nach Confucius
beständig geübt werden sollen, sind: Wohlwollen, Aufrichtigkeit,
Höflichkeit, Kenntnisse und Treue; aber er hat bei letzterer, wie es
scheint, mehr die Frau als den Mann im Auge. Ihr weist er als die
drei höchsten Pflichten (San-jo Gehorsam gegen die Eltern, gegen
den Mann und -- nach dessen Tod -- gegen den ältesten Sohn zu;
nur für den Mann kennt er Scheidungsgründe.

Nach Confucius und seinem fast eben so berühmten Schüler
Mencius (Moshi oder Mofushi) ist die Natur des Menschen, wie sie
der Himmel ihm verliehen, gut, und nur die Verbindung der reinen
Seele mit dem Körper und seinen Bedürfnissen erzeugt Leidenschaften
und Sünden. Der Hauptzug in den Schriften des Mencius entspricht
der Sentenz des Thales: "Erkenne Dich selbst".

Kein Philosoph, kein Gesetzgeber des classischen Alterthums hat
schon bei Lebzeiten, geschweige nach seinem Tode, einen solchen
Einfluss geübt, als Confucius, der Socrates Chinas, auf seine Heimath
und ganz Ostasien. Drei Tausend Schüler lauschten seinen Worten
und wurden von ihnen und seinem edlen Beispiele begeistert. Das
ganze Leben und die Weltanschauungen der gebildeten Classen in
den Ländern des östlichen Monsungebietes wurden von den Lehren
Koshi's und Moshi's beeinflusst und durchdrungen. Diese Lehren
bildeten und bilden noch jetzt das Evangelium und die Quintessenz

II. Ethnographie.

Ueber das Leben und Wirken des hochgefeierten chinesischen
Weisen herrscht kein Zweifel. Es ist eine historische Persönlichkeit,
welche im 6. Jahrhundert v. Chr. auftrat, etwa 100 Jahre später als
Siddârtha (Buddha) und ebensoviel früher als Socrates. Er war Poet,
Historiker, Kritiker und Philosoph, doch ist es seine Bedeutung in
letzter Eigenschaft, welche hier in Betracht kommt. Dabei hat er
die höheren religiösen Fragen über unsere Beziehungen zu Gott und
die Unsterblichkeit der Seele unberührt gelassen. Seine Ethik gipfelt
in der Frage: »Wie muss der Mensch als Staatsbürger und gegen
seine Mitmenschen sich verhalten, um tugendhaft und glücklich zu
sein?« — Nach Kôshi steht Pietät gegen die Eltern als oberste
Pflicht und Tugend da, welche auch nach dem Tode derselben fort-
dauern soll. Allgemeine Menschenliebe kennt er nicht; er hält, wie
wir bereits früher sahen, die Blutrache nicht blos für zulässig, son-
dern für eine Pflicht. Der wahre Anhänger des Confucius ist ein
guter Sohn, loyaler Unterthan und treuer Gatte. »Unter hundert
Tugenden steht Pietät gegen die Eltern obenan; unter zehntausend
Verbrechen ist Ehebruch das grösste«. »Treue, Elternliebe, Reinheit
des Herzens und Aufrichtigkeit verbreiten Wohlgeruch durch hundert
Generationen«. Die fünf grossen Tugenden, welche nach Confucius
beständig geübt werden sollen, sind: Wohlwollen, Aufrichtigkeit,
Höflichkeit, Kenntnisse und Treue; aber er hat bei letzterer, wie es
scheint, mehr die Frau als den Mann im Auge. Ihr weist er als die
drei höchsten Pflichten (San-jô Gehorsam gegen die Eltern, gegen
den Mann und — nach dessen Tod — gegen den ältesten Sohn zu;
nur für den Mann kennt er Scheidungsgründe.

Nach Confucius und seinem fast eben so berühmten Schüler
Mencius (Môshi oder Mofushi) ist die Natur des Menschen, wie sie
der Himmel ihm verliehen, gut, und nur die Verbindung der reinen
Seele mit dem Körper und seinen Bedürfnissen erzeugt Leidenschaften
und Sünden. Der Hauptzug in den Schriften des Mencius entspricht
der Sentenz des Thales: »Erkenne Dich selbst«.

Kein Philosoph, kein Gesetzgeber des classischen Alterthums hat
schon bei Lebzeiten, geschweige nach seinem Tode, einen solchen
Einfluss geübt, als Confucius, der Socrates Chinas, auf seine Heimath
und ganz Ostasien. Drei Tausend Schüler lauschten seinen Worten
und wurden von ihnen und seinem edlen Beispiele begeistert. Das
ganze Leben und die Weltanschauungen der gebildeten Classen in
den Ländern des östlichen Monsungebietes wurden von den Lehren
Kôshi’s und Môshi’s beeinflusst und durchdrungen. Diese Lehren
bildeten und bilden noch jetzt das Evangelium und die Quintessenz

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0552" n="518"/>
            <fw place="top" type="header">II. Ethnographie.</fw><lb/>
            <p>Ueber das Leben und Wirken des hochgefeierten chinesischen<lb/>
Weisen herrscht kein Zweifel. Es ist eine historische Persönlichkeit,<lb/>
welche im 6. Jahrhundert v. Chr. auftrat, etwa 100 Jahre später als<lb/>
Siddârtha (Buddha) und ebensoviel früher als Socrates. Er war Poet,<lb/>
Historiker, Kritiker und Philosoph, doch ist es seine Bedeutung in<lb/>
letzter Eigenschaft, welche hier in Betracht kommt. Dabei hat er<lb/>
die höheren religiösen Fragen über unsere Beziehungen zu Gott und<lb/>
die Unsterblichkeit der Seele unberührt gelassen. Seine Ethik gipfelt<lb/>
in der Frage: »Wie muss der Mensch als Staatsbürger und gegen<lb/>
seine Mitmenschen sich verhalten, um tugendhaft und glücklich zu<lb/>
sein?« &#x2014; Nach <hi rendition="#g">Kôshi</hi> steht <hi rendition="#g">Pietät</hi> gegen die Eltern als oberste<lb/>
Pflicht und Tugend da, welche auch nach dem Tode derselben fort-<lb/>
dauern soll. Allgemeine Menschenliebe kennt er nicht; er hält, wie<lb/>
wir bereits früher sahen, die Blutrache nicht blos für zulässig, son-<lb/>
dern für eine Pflicht. Der wahre Anhänger des Confucius ist ein<lb/>
guter Sohn, loyaler Unterthan und treuer Gatte. »Unter hundert<lb/>
Tugenden steht Pietät gegen die Eltern obenan; unter zehntausend<lb/>
Verbrechen ist Ehebruch das grösste«. »Treue, Elternliebe, Reinheit<lb/>
des Herzens und Aufrichtigkeit verbreiten Wohlgeruch durch hundert<lb/>
Generationen«. Die fünf grossen Tugenden, welche nach Confucius<lb/>
beständig geübt werden sollen, sind: Wohlwollen, Aufrichtigkeit,<lb/>
Höflichkeit, Kenntnisse und Treue; aber er hat bei letzterer, wie es<lb/>
scheint, mehr die Frau als den Mann im Auge. Ihr weist er als die<lb/>
drei höchsten Pflichten (San-jô Gehorsam gegen die Eltern, gegen<lb/>
den Mann und &#x2014; nach dessen Tod &#x2014; gegen den ältesten Sohn zu;<lb/>
nur für den Mann kennt er Scheidungsgründe.</p><lb/>
            <p>Nach Confucius und seinem fast eben so berühmten Schüler<lb/>
Mencius (<hi rendition="#g">Môshi</hi> oder Mofushi) ist die Natur des Menschen, wie sie<lb/>
der Himmel ihm verliehen, gut, und nur die Verbindung der reinen<lb/>
Seele mit dem Körper und seinen Bedürfnissen erzeugt Leidenschaften<lb/>
und Sünden. Der Hauptzug in den Schriften des Mencius entspricht<lb/>
der Sentenz des Thales: »Erkenne Dich selbst«.</p><lb/>
            <p>Kein Philosoph, kein Gesetzgeber des classischen Alterthums hat<lb/>
schon bei Lebzeiten, geschweige nach seinem Tode, einen solchen<lb/>
Einfluss geübt, als Confucius, der Socrates Chinas, auf seine Heimath<lb/>
und ganz Ostasien. Drei Tausend Schüler lauschten seinen Worten<lb/>
und wurden von ihnen und seinem edlen Beispiele begeistert. Das<lb/>
ganze Leben und die Weltanschauungen der gebildeten Classen in<lb/>
den Ländern des östlichen Monsungebietes wurden von den Lehren<lb/>
Kôshi&#x2019;s und Môshi&#x2019;s beeinflusst und durchdrungen. Diese Lehren<lb/>
bildeten und bilden noch jetzt das Evangelium und die Quintessenz<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[518/0552] II. Ethnographie. Ueber das Leben und Wirken des hochgefeierten chinesischen Weisen herrscht kein Zweifel. Es ist eine historische Persönlichkeit, welche im 6. Jahrhundert v. Chr. auftrat, etwa 100 Jahre später als Siddârtha (Buddha) und ebensoviel früher als Socrates. Er war Poet, Historiker, Kritiker und Philosoph, doch ist es seine Bedeutung in letzter Eigenschaft, welche hier in Betracht kommt. Dabei hat er die höheren religiösen Fragen über unsere Beziehungen zu Gott und die Unsterblichkeit der Seele unberührt gelassen. Seine Ethik gipfelt in der Frage: »Wie muss der Mensch als Staatsbürger und gegen seine Mitmenschen sich verhalten, um tugendhaft und glücklich zu sein?« — Nach Kôshi steht Pietät gegen die Eltern als oberste Pflicht und Tugend da, welche auch nach dem Tode derselben fort- dauern soll. Allgemeine Menschenliebe kennt er nicht; er hält, wie wir bereits früher sahen, die Blutrache nicht blos für zulässig, son- dern für eine Pflicht. Der wahre Anhänger des Confucius ist ein guter Sohn, loyaler Unterthan und treuer Gatte. »Unter hundert Tugenden steht Pietät gegen die Eltern obenan; unter zehntausend Verbrechen ist Ehebruch das grösste«. »Treue, Elternliebe, Reinheit des Herzens und Aufrichtigkeit verbreiten Wohlgeruch durch hundert Generationen«. Die fünf grossen Tugenden, welche nach Confucius beständig geübt werden sollen, sind: Wohlwollen, Aufrichtigkeit, Höflichkeit, Kenntnisse und Treue; aber er hat bei letzterer, wie es scheint, mehr die Frau als den Mann im Auge. Ihr weist er als die drei höchsten Pflichten (San-jô Gehorsam gegen die Eltern, gegen den Mann und — nach dessen Tod — gegen den ältesten Sohn zu; nur für den Mann kennt er Scheidungsgründe. Nach Confucius und seinem fast eben so berühmten Schüler Mencius (Môshi oder Mofushi) ist die Natur des Menschen, wie sie der Himmel ihm verliehen, gut, und nur die Verbindung der reinen Seele mit dem Körper und seinen Bedürfnissen erzeugt Leidenschaften und Sünden. Der Hauptzug in den Schriften des Mencius entspricht der Sentenz des Thales: »Erkenne Dich selbst«. Kein Philosoph, kein Gesetzgeber des classischen Alterthums hat schon bei Lebzeiten, geschweige nach seinem Tode, einen solchen Einfluss geübt, als Confucius, der Socrates Chinas, auf seine Heimath und ganz Ostasien. Drei Tausend Schüler lauschten seinen Worten und wurden von ihnen und seinem edlen Beispiele begeistert. Das ganze Leben und die Weltanschauungen der gebildeten Classen in den Ländern des östlichen Monsungebietes wurden von den Lehren Kôshi’s und Môshi’s beeinflusst und durchdrungen. Diese Lehren bildeten und bilden noch jetzt das Evangelium und die Quintessenz

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/rein_japan01_1881
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/rein_japan01_1881/552
Zitationshilfe: Rein, Johann Justus: Japan nach Reisen und Studien. Bd. 1. Leipzig, 1881, S. 518. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rein_japan01_1881/552>, abgerufen am 20.05.2024.