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Rein, Johann Justus: Japan nach Reisen und Studien. Bd. 1. Leipzig, 1881.

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4. Die Familie. Adoption. Erziehung und Unterricht etc.
Büchern des Occidents unterrichtet, nach Principien, die dem christ-
lichen Geiste entsprungen und von christlicher Moral durchweht sind.
Und diese grosse Wohlthat geniesst das Kind des Heimin neben dem
des Samurai; denn die Schule ist unbekümmert um die gesellschaft-
liche Stellung des Vaters jedem Kinde zugängig, für welches das
bescheidene Schulgeld von 80 Pfennigen bis zu 3 Mark per Monat,
je nach dem Grade der Anstalt, bezahlt wird.

Den modernen japanischen Schulen, die fast nur practische Zwecke
verfolgen, fehlen jedoch noch zwei sehr wichtige Factoren einer nach
unseren Begriffen soliden und zugleich liberalen Erziehung, von denen
der eine vornehmlich zur Bildung des Gemüthes, der andere zur
körperlichen Ausbildung gehört, nämlich der Unterricht in Religion
und Gesang, sowie im Turnen. In früherer Zeit, wo gymnastische
Uebungen ausser der Schule, wie Drachensteigen, Kriegsspiele,
Fechten, bei der männlichen japanischen Jugend viel verbreitet und
weit beliebter waren als jetzt, war es in Folge dessen um die kör-
perliche Ausbildung besser bestellt. Gegenwärtig aber erscheint die
Einführung des Turnens nicht blos als Aequivalent und Gegengewicht
gegen die üblen Folgen der sitzenden Lebensart zur Entwickelung
und Stärkung des Körpers geboten, sondern auch als Gegenstand von
grosser sittlicher Bedeutung. Es ist nöthig, dass die japanischen
Eltern und Pädagogen sich bemühen, der Jugend Geschmack an ge-
sunden, tüchtigen Körperbewegungen, wie sie das Turnen und die
sogenannten Athletic Sports der Engländer in reichem Maasse ge-
währen, beizubringen, um so vereint mit einer besseren religiösen
Grundlage, die wir dem uns sehr sympathischen Volke von ganzem
Herzen wünschen, allmählich eine Jugend zu erziehen, die vielleicht
weniger docil als die gegenwärtige, dafür aber körperlich und geistig
frischer und kräftiger, auch höheren Idealen zustrebt.

Es gibt keine gesellschaftlichen Vergnügungen, die sich mit
unseren Abendunterhaltungen, Concerten oder Bällen vergleichen
liessen. Wenn sich die herangewachsene männliche Jugend der Städte
gemeinsam vergnügen will, so feiert sie Orgien in schlechter Ge-
sellschaft.

Gesang und Instrumentalmusik sind Künste, die, wie im ganzen
Orient, so auch in Japan in der Regel nur von Mädchen ausgeübt
werden. Diejenigen, welche sie hier gewerbsmässig betreiben, heissen
Geishas. Dem Ansehen nach stehen sie in der Mitte unter den drei
niedrigen Berufsclassen, welche dem Vergnügen dienen, nämlich den
Yakusha, Geisha und Joro (Schauspielern, Tänzerinnen und Freuden-
mädchen). Theater (Shibai) und Freudenhäuser (Joroya), in denen

32*

4. Die Familie. Adoption. Erziehung und Unterricht etc.
Büchern des Occidents unterrichtet, nach Principien, die dem christ-
lichen Geiste entsprungen und von christlicher Moral durchweht sind.
Und diese grosse Wohlthat geniesst das Kind des Heimin neben dem
des Samurai; denn die Schule ist unbekümmert um die gesellschaft-
liche Stellung des Vaters jedem Kinde zugängig, für welches das
bescheidene Schulgeld von 80 Pfennigen bis zu 3 Mark per Monat,
je nach dem Grade der Anstalt, bezahlt wird.

Den modernen japanischen Schulen, die fast nur practische Zwecke
verfolgen, fehlen jedoch noch zwei sehr wichtige Factoren einer nach
unseren Begriffen soliden und zugleich liberalen Erziehung, von denen
der eine vornehmlich zur Bildung des Gemüthes, der andere zur
körperlichen Ausbildung gehört, nämlich der Unterricht in Religion
und Gesang, sowie im Turnen. In früherer Zeit, wo gymnastische
Uebungen ausser der Schule, wie Drachensteigen, Kriegsspiele,
Fechten, bei der männlichen japanischen Jugend viel verbreitet und
weit beliebter waren als jetzt, war es in Folge dessen um die kör-
perliche Ausbildung besser bestellt. Gegenwärtig aber erscheint die
Einführung des Turnens nicht blos als Aequivalent und Gegengewicht
gegen die üblen Folgen der sitzenden Lebensart zur Entwickelung
und Stärkung des Körpers geboten, sondern auch als Gegenstand von
grosser sittlicher Bedeutung. Es ist nöthig, dass die japanischen
Eltern und Pädagogen sich bemühen, der Jugend Geschmack an ge-
sunden, tüchtigen Körperbewegungen, wie sie das Turnen und die
sogenannten Athletic Sports der Engländer in reichem Maasse ge-
währen, beizubringen, um so vereint mit einer besseren religiösen
Grundlage, die wir dem uns sehr sympathischen Volke von ganzem
Herzen wünschen, allmählich eine Jugend zu erziehen, die vielleicht
weniger docil als die gegenwärtige, dafür aber körperlich und geistig
frischer und kräftiger, auch höheren Idealen zustrebt.

Es gibt keine gesellschaftlichen Vergnügungen, die sich mit
unseren Abendunterhaltungen, Concerten oder Bällen vergleichen
liessen. Wenn sich die herangewachsene männliche Jugend der Städte
gemeinsam vergnügen will, so feiert sie Orgien in schlechter Ge-
sellschaft.

Gesang und Instrumentalmusik sind Künste, die, wie im ganzen
Orient, so auch in Japan in der Regel nur von Mädchen ausgeübt
werden. Diejenigen, welche sie hier gewerbsmässig betreiben, heissen
Geishas. Dem Ansehen nach stehen sie in der Mitte unter den drei
niedrigen Berufsclassen, welche dem Vergnügen dienen, nämlich den
Yakusha, Geisha und Jôro (Schauspielern, Tänzerinnen und Freuden-
mädchen). Theater (Shibai) und Freudenhäuser (Jôrôya), in denen

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[499/0533] 4. Die Familie. Adoption. Erziehung und Unterricht etc. Büchern des Occidents unterrichtet, nach Principien, die dem christ- lichen Geiste entsprungen und von christlicher Moral durchweht sind. Und diese grosse Wohlthat geniesst das Kind des Heimin neben dem des Samurai; denn die Schule ist unbekümmert um die gesellschaft- liche Stellung des Vaters jedem Kinde zugängig, für welches das bescheidene Schulgeld von 80 Pfennigen bis zu 3 Mark per Monat, je nach dem Grade der Anstalt, bezahlt wird. Den modernen japanischen Schulen, die fast nur practische Zwecke verfolgen, fehlen jedoch noch zwei sehr wichtige Factoren einer nach unseren Begriffen soliden und zugleich liberalen Erziehung, von denen der eine vornehmlich zur Bildung des Gemüthes, der andere zur körperlichen Ausbildung gehört, nämlich der Unterricht in Religion und Gesang, sowie im Turnen. In früherer Zeit, wo gymnastische Uebungen ausser der Schule, wie Drachensteigen, Kriegsspiele, Fechten, bei der männlichen japanischen Jugend viel verbreitet und weit beliebter waren als jetzt, war es in Folge dessen um die kör- perliche Ausbildung besser bestellt. Gegenwärtig aber erscheint die Einführung des Turnens nicht blos als Aequivalent und Gegengewicht gegen die üblen Folgen der sitzenden Lebensart zur Entwickelung und Stärkung des Körpers geboten, sondern auch als Gegenstand von grosser sittlicher Bedeutung. Es ist nöthig, dass die japanischen Eltern und Pädagogen sich bemühen, der Jugend Geschmack an ge- sunden, tüchtigen Körperbewegungen, wie sie das Turnen und die sogenannten Athletic Sports der Engländer in reichem Maasse ge- währen, beizubringen, um so vereint mit einer besseren religiösen Grundlage, die wir dem uns sehr sympathischen Volke von ganzem Herzen wünschen, allmählich eine Jugend zu erziehen, die vielleicht weniger docil als die gegenwärtige, dafür aber körperlich und geistig frischer und kräftiger, auch höheren Idealen zustrebt. Es gibt keine gesellschaftlichen Vergnügungen, die sich mit unseren Abendunterhaltungen, Concerten oder Bällen vergleichen liessen. Wenn sich die herangewachsene männliche Jugend der Städte gemeinsam vergnügen will, so feiert sie Orgien in schlechter Ge- sellschaft. Gesang und Instrumentalmusik sind Künste, die, wie im ganzen Orient, so auch in Japan in der Regel nur von Mädchen ausgeübt werden. Diejenigen, welche sie hier gewerbsmässig betreiben, heissen Geishas. Dem Ansehen nach stehen sie in der Mitte unter den drei niedrigen Berufsclassen, welche dem Vergnügen dienen, nämlich den Yakusha, Geisha und Jôro (Schauspielern, Tänzerinnen und Freuden- mädchen). Theater (Shibai) und Freudenhäuser (Jôrôya), in denen 32*

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Zitationshilfe: Rein, Johann Justus: Japan nach Reisen und Studien. Bd. 1. Leipzig, 1881, S. 499. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rein_japan01_1881/533>, abgerufen am 22.11.2024.